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Die Dornenvögel

Die Dornenvögel

Titel: Die Dornenvögel
Autoren: Colleen McCoullough
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fort: »Deine Mutter ist einsam.«
    Wenn Meggie es so wollte, nun, gut. Wie hätte er sich gegen sie stellen können? Gegen sie und Justine?
    »Ja, vielleicht«, sagte sie mit einem Stirnrunzeln. »Aber ich habe irgendwie das Gefühl, daß es tiefere Gründe gibt. Ich meine, einsam muß sie sich doch schon seit Jahren fühlen. Weshalb also dieses plötzliche - ich weiß nicht, wie ich’s nennen soll? Ich werde einfach nicht schlau daraus, Rain, und das beunruhigt mich wohl am meisten.«
    »Sie wird älter, Justine. Ich weiß nicht, ob du dir das so richtig klarmachst. Vieles, womit sie früher leichter fertig wurde, wird ihr jetzt zusetzen.« Seine Augen blickten plötzlich wie aus großer Ferne.
    Es war, als ob sein Mund Worte sagte, die zu denken er sein Gehirn erst zwingen mußte. »Justine, vor drei Jahren hat sie ihren einzigen Sohn verloren. Glaubst du, daß sich ihr Schmerz um ihn inzwischen gemildert hat? Ich glaube es nicht. Es dürfte damit eher schlimmer geworden sein. Schließlich muß sie inzwischen ja annehmen, auch dich für immer verloren zu haben. Du hast sie in all den Jahren nicht einmal besucht.«
    Sie schloß die Augen. »Ich werde sie besuchen, Rain, ja, das werde ich - schon bald! Du hast natürlich recht, und du hast auch sonst recht behalten. Nie hätte ich geglaubt, daß mir Drogheda einmal fehlen würde, aber in letzter Zeit denke ich oft daran. Es ist fast, als ob ich mich irgendwie doch Drogheda zugehörig fühle.« Er warf plötzlich einen Blick auf seine Armbanduhr. »Ich fürchte, Herzchen, daß ich dich heute abend auch als eine Art Alibi benutzt habe. In einer knappen Stunde treffe ich mich mit einigen hochwichtigen Herren an einem höchst geheimen Ort, und dorthin muß ich natürlich allein fahren, im eigenen Wagen, am Steuer den absolut vertrauenswürdigen Fritz, der von den Sicherheitsbehörden auf Herz und Nieren überprüft worden ist.«
    »Die große Verschwörung oder so ähnlich?« sagte sie und gab sich vergnügt, um sich nicht anmerken zu lassen, wie tief sie sich verletzt fühlte. »Ich muß also mit einem Taxi vorlieb nehmen, während ihr euch worüber rauft? Den Gemeinsamen Markt? Bin ich eine Art EWG-Geschädigte? Aber weißt du, was? Ich werde mit der U-Bahn fahren. Ist ja noch früh genug, und gegen Taxis habe ich irgendwie was, jedenfalls heute.« Sie nahm seine Hand, preßte sie gegen ihre Wange, küßte sie dann und sagte, sehr ernst jetzt: »Oh, Rain, ich wüßte nicht, was ich ohne dich tun würde!«
    Er zog seine Hand sacht zurück, stand auf und kam um den Tisch herum. Während er ihren Stuhl zurückzog, sagte er: »Ich bin dein Freund. Und dafür sind Freunde ja da - daß man sie hat, wenn man sie braucht.«
    Grübelnd fuhr Justine nach Hause, und bald geriet sie in ein dumpfes, bedrücktes Brüten. Heute abend war Rain im Gespräch zum ersten Mal auf persönlichere Dinge eingegangen. Und was hatte er gesagt? Daß ihre Mutter sich gewiß einsam fühle und das Älterwerden spüre und daß sie, Justine, sie besuchen solle. Hatte er »besuchen« gesagt, vielleicht jedoch »heimkehren« gemeint? Es schien so. Und damit stand wohl fest, daß er unter das, was er einmal für sie empfunden haben mochte, endgültig einen Schlußstrich gezogen hatte. Zum ersten Mal kam ihr dieser Gedanke: daß sie für ihn vielleicht ein Stück Vergangenheit war, das er am liebsten lossein wollte. Weshalb sonst drängte er ihr den Gedanken an Drogheda auf? Andererseits: Weshalb war er vor neun Monaten wieder in ihr Leben getreten? Weil sie ihm leid tat? Weil er meinte, er sei ihr irgend etwas schuldig?
    Tatsache war jedenfalls, daß er sie nicht mehr liebte, daß jedes derartige Gefühl für sie in ihm erstorben war. Kein Wunder, nachdem sie ihn so niederträchtig behandelt hatte. Schuld an allem war nur sie selbst.
    Ruhelos hatte sie sich im Bett gewälzt. Jetzt brach sie in Tränen aus, nahm sich dann zusammen und knipste die Nachttischlampe an. Das Manuskript eines Theaterstücks lag griffbereit. Es war eine alte, erprobte Methode, um Gespenster zu verscheuchen, bedrückende Gedanken zu verdrängen. Doch diesmal schien das nichts zu nützen. Schon nach wenigen Zeilen begannen die Worte vor ihren Augen zu verschwimmen, und nach einigen Seiten konnte sie endgültig nicht mehr weiterlesen. Und so lag sie, wie durchpulst von Gedanken, von Ängsten, von Verzweiflung.
    Als das erste trübe Morgenlicht durch die Fenster fiel, als die Verkehrsgeräusche allmählich anwuchsen, als die
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