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Die Dilettanten

Titel: Die Dilettanten
Autoren: Thomas Wieczorek
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Situationen geben wie die im Nachkriegsdeutschland, als Bundeskanzler Konrad Adenauer große Teile der Nazi-Beamtenschaft als »unersetzliche Fachleute« in den bundesdeutschen öffentlichen Dienst übernahm. Aber die rheinische Frohnatur gab dies wenigstens offen zu: »Wer kein sauberes Wasser hat, sollte schmutziges Wasser nicht wegschütten.« 331
    Daraus folgt aber – auch wenn es später ganz und gar nicht so geschah –, dass man schmutziges Wasser möglichst schnell durch sauberes ersetzt und entsorgt.
    Man kann die Qualifikation, die ein Politiker noch vor der Fachkompetenz mitbringen muss, auch
soziale
Kompetenz nennen: also den Willen und die Fähigkeit, das im Grundgesetz versprochene »Streben nach Glück« nicht auf die Freiheit zum Kauf eines Lottoscheins zu reduzieren.
    In diesem Zusammenhang erinnert Heribert Prantl zum maßlosen Ärger der Koalition an den »Sozialismus im Grundgesetz« in Gestalt des Artikels 15: »Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung … in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.« Dieser sei »kein Überbleibsel aus der DDR: Im Grundgesetz befasst sich ein Artikel mit Vergesellschaftung – und verdeutlicht das wirtschaftliche Spektrum, das in Deutschland möglich wäre.« Allerdings stehe dieser Artikel»immer noch genau so da, wie er 1949 hineingeschrieben wurde. Er ist so unbenutzt, dass man ihn eigentlich ins Ausland verkaufen könnte.« Und: »Man mag den Eindruck haben, dies sei schon geschehen, denn der in Deutschland unbenutzte Artikel trägt die Überschrift ›Vergesellschaftung‹. Und genau das haben die USA, Großbritannien und Island soeben mit einer ganzen Reihe von Banken in ihren Ländern gemacht.« 332
    Aktuell betreiben übrigens gerade die pathologisch neoliberalen Regierungen die keynesianische Politik der Staatsausgaben als Ausgleich für die fehlende private Nachfrage. Wenngleich dies wie gesehen nichts mit Sozialismus zu tun hat, so hat Keynes jedoch gegenüber den neoliberalen Päpsten einen »moralischen« Vorteil: Friedrich August von Hayek zum Beispiel, von dessen »bestechender Logik und überzeugenden Argumenten« unsere Kanzlerin hellauf begeistert ist, prahlte damit, er könne nicht sozial denken, denn er wisse gar nicht, was das sei. In den Augen Angela Merkels arbeitet dieser Mann »mit heraus, dass es dabei vor allem um die Gewährleistung individueller Freiheit als Voraussetzung für Fortschritt und Prosperität einer Gesellschaft geht«. 333
    »Das ganze Programm einer hemmungslosen Unterwerfung der Lebenswelt unter Imperative des Marktes muss auf den Prüfstand!«, fordert der Philosoph Jürgen Habermas: »Blamiert hat sich die Agenda, die Anlegerinteressen eine rücksichtslose Dominanz einräumt, die ungerührt wachsende soziale Ungleichheit, das Entstehen eines Prekariats, Kinderarmut, Niedriglöhne und so weiter in Kauf nimmt, die mit ihrem Privatisierungswahn Kernfunktionen des Staates aushöhlt, die die deliberativen Reste der politischen Öffentlichkeit an renditesteigernde Finanzinvestoren verscherbelt, Kultur und Bildung von den Interessen und Launen konjunkturempfindlicher Sponsoren abhängig macht.« 334
    Letztlich läuft auch bei der Politikerkompetenz alles auf die nur scheinbar abgedroschene Frage nach dem Sinn des Lebens hinaus. »Die Volksparteien haben ihren spezifischen Ethos verloren«, klagt Franz Walter. »Ihnen fehlen kreative Programmatiker, die neu über die Sinnfrage und Zielperspektive des politischen Tuns nachdenken.« 335
    Den Zusammenhang zwischen Neoliberalismus und einer der größten Wirtschaftskrisen aller Zeiten zu verschleiern oder aufzudecken – auch das macht den Unterschied zwischen einem verlogenen dilettantischen und einem integren kompetenten Politiker aus.
    Nach ihrer Fasson selig werden können die Bürger nämlich nur, wenn der Staat diese Freiheit des Einzelnen
gegen
den Missbrauch dieser Freiheit durch Wirtschaftsmonster verteidigt – und den Bürgern zumindest ein Minimum an materiellen Voraussetzungen für ihr Streben nach Glück ermöglicht. Ein Mindestlohn wie in den meisten zivilisierten Ländern ist daher längst überfällig.
    Ebenso hat der Staat zum Beispiel für Bildung
nicht
deshalb zu sorgen, damit das »Humankapital« noch profitabler verwertbar ist und für den Ellenbogenbürger Chancengleichheit beim skrupellosen Kampf um das Maximaleinkommen besteht, sondern weil Bildung ein
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