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Die deutsche Seele

Die deutsche Seele

Titel: Die deutsche Seele
Autoren: Thea Dorn
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meisten dominierten die Wortgefechte. Früher gab es die Reparationen. Man sprach über Summen und über Unsummen, aber das war es dann auch. Angesichts von Auschwitz empfand man, dass man nicht bloß von Zahlen sprechen dürfe, aber man versuchte auch ohne die Frage auszukommen, was da wiedergutgemacht werden könnte. Wer sich in die Moralisierung der politischen Begrifflichkeit begibt, dem wird vieles zum Problem. So versuchte man zunächst, der moralischen Frage mit einer moralischen Stellungnahme zu begegnen.
    Zur Wiedergutmachung kam auf diese Weise die Vergangenheitsbewältigung hinzu. Wenn sich ein Verbrechen wiedergutmachen lässt, dann muss sich auch die Vergangenheit insgesamt bewältigen lassen. Die meisten Deutschen fühlten sich nach 1945 als Geschlagene. Bevor sie noch über das Geschehene nachdenken konnten, waren sie der alliierten Sortierung und deren eigenen Kriterien ausgesetzt. Die Rede ist vom Fragebogen, aufgrund dessen die Entnazifizierung stattfand. Der Begriff wurde zu Titel und Thema eines sehr erfolgreichen Buches von Ernst von Salomon. Es war der Protest eines bekannten Konservativen der Weimarer Republik, der zur Stimme einer Mehrheit ohne Sprache wurde. Aufgrund dieses Fragebogens erhielt man eine entsprechende politische Einstufung, war damit eingeordnet, aber auch abgestempelt.
    Das hatte Folgen für die Sicht der Deutschen auf die Prozesse, vor allem die in Nürnberg nach Kriegsende von den Alliierten musterhaft durchgeführten. Gegen die Kollektivschuld wandten sich auch die Sprecher der jungen Generation, Alfred Andersch und Hans Werner Richter, die Herausgeber der unabhängigen Zeitschrift Der Ruf, die bereits 1947 verboten wurde. Andersch und Richter gehörten als Schriftsteller der kommenden Gruppe 47 an.
    Das Wort von der »Siegerjustiz«, das damals im Umlauf war, beschränkte sich nicht auf extremistische Kreise. Es ist bezeichnend, dass es nach 1990 im wiedervereinigten Deutschland als Vorwurf an die bundesdeutsche Eingliederungspolitik der Ost-Bundesländer in den Sprachgebrauch zurückkehrte.
    Die Vergangenheitsbewältigung wurde zu einem mächtigen Instrument in öffentlichen Debatten. Wer keine Argumente mehr hatte, konnte sicher sein, mit dem Vorwurf der mangelhaften Aufarbeitung der Vergangenheit punkten zu können. Bereits in den frühen Jahren machte sich die schlechte Gewohnheit breit, sich gegenseitig des Nazitums zu bezichtigen. Während die Wiedergutmachung staatlich organisiert war und die Vergangenheitsbewältigung zur öffentlichen Angelegenheit wurde, konnte der Einzelne sich ganz gut aus der Affäre ziehen. Je mehr die Thematik den öffentlichen Raum beherrschte, desto weniger musste er sich mit seinem eigenen Lebenslauf konfrontieren. Die Schuld blieb die Schuld der anderen, obwohl er einer von ihnen war. Es genügte, wenn er sich an den ausgerufenen Ritualen beteiligte, an den weitgehend akademischen Kampagnen gegen die Atombombe und den Krieg im Allgemeinen, an den Friedenskundgebungen aller Art, bei denen viele dabei waren, die es ehrlich meinten, wo aber stets auch das Geld aus der DDR mitmischte. Eines war klar: Wenn es zum Krieg zwischen Ost und West käme, wäre der Hauptkriegsschauplatz Deutschland. Um das zu verhindern, stand der Deutsche Michel wieder auf und sagte sich, er verzichte sogar auf die Bundeswehr. Als ob man Kriegsteilnehmer hätte sein müssen, um als Kriegschauplatz in Frage zu kommen. Der Deutsche Michel der fünfziger Jahre war skeptisch wie Helmut Schelsky und übermütig wie Wolfgang Neuss, der Mann mit der Pauke.
    Zwei Autoren schickten sich an, unseren Michel gehörig zu verstimmen: Caspar von Schrenck-Notzing und Alexander Mitscherlich. Die Bücher hatten programmatische Titel. Charakterwäsche nannte sich das eine, Die Unfähigkeit zu trauern das andere. Während der rechtskonservative Schrenck-Notzing die Reeducation anprangerte, machten der linksliberale Mitscherlich und seine Mitautorin Margarethe Mitscherlich die Deutschen selbst verantwortlich für das Debakel um die Vergangenheit. Es war eine folgenreiche Herausforderung der deutschen Seele.
    Die Vergangenheitspolitik, wie sie inzwischen von den Historikern genannt wird, schlug immer neue Wellen. Jedes neue Jahrzehnt hatte sein zentrales NS-Ereignis. In den sechziger Jahren waren es Eichmann-Vernehmung und Auschwitzprozesse, in den Siebzigern die Holocaust -Serie. Sie brachte einen Paradigmenwechsel. Das Unfassbare wurde durch eine konventionell inszenierte
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