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Die deutsche Seele

Die deutsche Seele

Titel: Die deutsche Seele
Autoren: Thea Dorn
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der Kalte Krieg ist geschmolzen und mit ihm die eisige Mauer, die mich von mir selbst getrennt hat. Grenzen überschreite ich nicht mehr, um Grenzen zu überschreiten. In meinen Pass ist mit unsichtbarem Stempel gedruckt: Weltbürger. Wohnhaft in Hinterzarten. Das macht nichts. Ich habe gelernt, in vielen Zungen zu reden.
    Die Freiheit verteidige ich in Gedanken, meine Taten dienen der Sicherheit. Die Flügelspitzen stutze ich mir täglich mit der Nagelschere: Keine Extreme! Die Mitte ist mein neues Maß. Dort bin ich und dort bleibe ich. Bis mich die Sehnsucht überkommt. Nach dem Wilden, dem Unbändigen. Dann will ich dem Schicksal in den Rachen greifen. Doch plötzlich kehrt die Angst zurück.
    Vor allem, was da draußen ist. Und wenn die Dämmerung anbricht - vor mir. Ach, könnt’ ich mir doch endlich selbst vertrauen! Im Traum beginne ich zu singen, und mich schauert im Herzensgrunde.
    Ich bin verträglich geworden. Bisweilen denke ich: ein verträglicher Zombie. Meine Vernunft hat der Sehnsucht Zügel angelegt. Ich verspreche, die Zügel fest in der Hand zu behalten. Aber atmen kann ich nur, solange die Sehnsucht noch an ihnen zerrt.
    Manche glauben, meine Zerrissenheit hieße »anything goes«. Dabei ist sie das Gegenteil. In nichts ähnelt sie dem heiteren Surfen und Switchen und Rollentauschen - meine Zerrissenheit schmerzt. Das will ich, das kann ich, das muss ich ertragen. Wer »Vielfalt« sagt, als stünde er am Tresen und böte den jüngsten Sommercocktail feil, erscheint mir als Betrüger.
    Barbaren haben versucht, mir die Zerrissenheit auszutreiben, indem sie mich im Gleichschritt marodieren ließen. Gute Menschen versuchen, mir die Zerrissenheit auszureden, indem sie jeden Abgrund zum Sperrgebiet erklären. Kinder haften für ihre Eltern. Ich übernehme die Verantwortung und bekenne mich zur politischen Behutsamkeit. Zur Versöhnung, zum Kompromiss. Das dürft ihr, das sollt ihr von mir verlangen. Aber verlangt nicht, dass ich den Kopf in Watte stecke, auf dass nur noch gedämpfte Laute nach außen dringen.
    Lasst mir meine Zerrissenheit. Sie ist das Beste, was ich habe.
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