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Die da kommen

Die da kommen

Titel: Die da kommen
Autoren: Liz Jensen
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oder aus einer ungewöhnlichen Perspektive entziffert werden konnten. Wir waren praktisch blind. Was übrigens ein metaphorischer Ausdruck ist. Metaphorische Ausdrücke kann ich nämlich, im Gegensatz zu vielen anderen innerhalb des sprachlichen Spektrums, anwenden.
    Der Mord mit dem Druckluftnagler traf mich besonders heftig, weil Kind Eins genauso alt war wie Freddy: sieben. Nachdem ich diese Verbindung einmal hergestellt hatte, sah ich unwillkürlich meinen Stiefsohn vor mir, wie er mit seiner Schleuder auf einen anderen Menschen zielte und schoss.
    Welches Ziel hatte Freddy sich in dieser Vorstellung ausgesucht?
    Es mag mich in ein schlechtes Licht rücken, aber ich sage es trotzdem, weil es die Wahrheit ist: seine Mutter Kaitlin.
    Ich sehe Freddy mit seinen schwarzen Locken und dem Koboldgesicht, wie er zielt und auf ihr Herz feuert – wuuusch –, und höre ihren entsetzten Schrei.
    Eine meiner wichtigsten Bewältigungsstrategien in mentalen Notfällen ist Origami: Ich habe immer einen imaginären Stapel zarten Reispapiers in unterschiedlichen Farbtönen imKopf, das ich zu klassischen Formen falte. Als das Bild von Freddy, der auf Kaitlin schießt, zum ersten Mal auftauchte, faltete ich rasch elf japanische Kraniche, die als ozuru bekannt sind, konnte das Bild aber nicht vertreiben. Kaitlin nannte mich liebevoll einen »unheilbaren Materialisten«. Später wurde ein »Roboter aus Fleisch« daraus.
    Das ist unfair. Ich bin keine Maschine. Ich fühle Dinge. Ich nehme sie nur anders wahr. Die Geschichte der Mörderin im Pyjama und die unwillkommenen Bilder, die sie hervorrief, erschütterten durchaus mein Gleichgewicht.
    Nachdem sie mir die Affäre, deren unerträgliche Natur und die Lügen gestanden hatte (»Notlügen«, wie sie nachdrücklich behauptete), mit denen sie sie vertuschen wollte, versuchten Kaitlin und ich es auf ihren Wunsch hin noch eine Weile miteinander. Dazu gehörte auch eine Form der seelischen Folter, die als Paartherapie bekannt ist.
    Hesketh, was bewundern Sie am meisten an Kaitlin?
    Kaitlin, können Sie erklären, was Sie bei Ihrer ersten Begegnung mit Hesketh angezogen hat?
    Für unser Problem war das nicht nur vollkommen irrelevant, sondern auch zwecklos. Es gibt bestimmte Dinge, für die ich einfach nicht geschaffen bin. Dazu gehört, wie mein Mentor Professor Whybray zu sagen pflegte, aller Wahrscheinlichkeit nach die Feldforschung. Und ich argwöhnte schon seit längerer Zeit, dass auch das Zusammenleben mit einer Frau darunter fiel. Die Tatsache, dass mein erster und einziger Versuch gescheitert war, bestätigt es ohne jeden Zweifel. Ich würde es nicht noch einmal versuchen.
    Ich war aus London und dem Haus weggezogen, in dem Kaitlin immer noch mit Freddy wohnte. Inseln haben mich von jeher fasziniert, linguistisch und auch weil sie zu sozialdarwinistischen Spekulationen einladen. Daher war Arran wie fürmich geschaffen. Ich begegnete hier nur wenigen Menschen: Das Cottage stand für sich, acht Kilometer vom nächsten Dorf entfernt, inmitten einer Landschaft aus Meer und Heidekraut, Felsbrocken und Schafen. Hier, fernab der Hauptstadt, übernahm ich das strategische Kommando über mich selbst, indem ich einen ritualisierten Tagesplan aus Arbeit und halbstündigen Spaziergängen aufstellte, mit einem ehrgeizigen Projekt von Origami-Mollusken begann und mich darin übte, an Kaitlin in der Vergangenheit zu denken. Nichts aber konnte die Leere füllen, die der Junge hinterlassen hatte.
    »Sieh mich richtig an. Sieh mir in die Augen«, sagte Kaitlin auf dem Höhepunkt von Streit oder Sex.
    In gewisser Weise verhöhnte sie mich damit. Sie wusste, dass ich es nicht konnte. Dass ich das Gesicht abwenden oder die Augen fest schließen würde.
    Als sie mich bekam, bekam sie auch die Dinge, die mich ausmachen, einschließlich jener Elemente meiner Persönlichkeit, die sie für mangelhaft hielt. Sie bekam ein Gesamtpaket namens Hesketh Lock. War es nicht unlogisch, dass sie sich wünschte, ich wäre jemand anders als ich selbst?
    Freddy wünschte sich das nicht. Er hatte noch nie vom Asperger-Syndrom gehört. Und falls doch, wäre es ihm egal gewesen. Er akzeptierte mich von Anfang an. Für ihn war ich Hesketh.
    Einfach nur Hesketh.
    Die Anthropologie ist eine Wissenschaft, in der man seine Mitmenschen, ihre Traditionen und Überzeugungen betrachten muss, als wären sie Angehörige einer fremden Spezies. Der Impuls des Fabulierens ist eine natürliche Reaktion auf eine verwirrende,
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