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Die da kommen

Die da kommen

Titel: Die da kommen
Autoren: Liz Jensen
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Sabotagefall gearbeitet hatte, tat es gut, von Dingen umgeben zu sein, die mir etwas bedeuten. »Festung Hesketh« pflegte Kaitlin mich zu nennen. Zutritt verboten. Falls sie recht hatte – was nach übereinstimmender Meinung der Fall war –, hatte ich trotzdem nicht vor, etwas an meiner Ichbezogenheit zu ändern.
    Mir blieb ein Tag, um den Untersuchungsbericht für Taipeh zu schreiben und die Anomalie von Sunny Chen zu erklären. Damit war ich gedanklich beschäftigt, während ich meinen Koffer auspackte. Fünf gleiche Hemden, Boxershorts, zwei Hosen, Kulturtasche, ein chinesisches Wörterbuch, Elektronik. Ich wusch mich und schaltete den Fernseher ein, um die Mittagsnachrichten zu sehen. Weltbevölkerung wächst weiter. Die UNO warnt vor einer »Katastrophe innerhalb der nächsten Generation«, falls die Geburtenraten nicht sinken. Dringende Unwetterwarnung: Hurrikan Veronica bewegt sich auf die Westküste zu. Doch es war die häusliche Gräueltat, die mich gefangen nahm. Ich war erschöpft, und der Bericht versetzte mich in einen dahintreibenden subozeanischen Albtraum.
    Die Großeltern des kleinen Mädchens kamen jede Woche zu Besuch. Die erschütterte Familie beharrte darauf, niemand habe dem Kind ein Leid zugefügt. Weder an diesem noch an irgendeinem anderen Sonntag. Als die Kleine morgens aufwachte, war sie laut ihrer Mutter gut gelaunt. Sie hatte sogar von einem Traum erzählt, in dem sie »durch eine wunderschöne, weiße Wüste gewandert war, die funkelte«. Sie sagte, sie habe wie der Himmel ausgesehen.
    Im Fernsehen zeigte man eine Doppelhaushälfte in einem Vorort von Harrogate. Der Reporter demonstrierte, wie eine kleine Hand einen Druckluftnagler dieses Typs umfassen und bedienen konnte. Eine Psychologin mühte sich mit einer Hypothese ab, weshalb ein so kleines Kind wohl die Menschen angriff, die es liebte. Eine ältere Nachbarin erklärte, die Familie sei »ganz normal«, und beschrieb den Pyjama. Ihre Enkelin habe einen ganz ähnlichen. Von Marks and Spencer, wie sie sagte. »Mit blauen Schmetterlingen.«
    Sonderbar, worüber Menschen weinen.
    Ich fragte mich, welches Blau sie wohl hatten. Himmelblau, Azurblau, Aquamarin, Tintenblau, Indigo? Ich könnte aus dem Stegreif achtunddreißig Blautöne aufzählen.
    Als Junge las ich alles, was mir in die Hände fiel: Betriebsanleitungen für die Spülmaschine, Fernsehprogramme, die Werke von Dostojewski, Zutatenlisten von Frühstücksflocken, die Cosmopolitan meiner Mutter, Angelzeitschriften, Pornos. Vor allem aber verschlang ich Comics, in denen bestimmte Geräusche durch eine breite Palette onomatopoetischer Wörter wiedergegeben wurden. Ein Schlag vor den Kiefer war ein Bäm , während ein abgeschossener Pfeil ein Zisch war. Eine gewöhnliche Pistole machte Peng . Der Klang eines Druckluftnaglers hingegen ist flacher und besteht aus einer Art Klicken. Ich würde es als Wuck bezeichnen.
    Platon hat vermutet, dass der Ort, an dem wir nach unserem Tod leben, derselbe ist, an dem wir uns vor unserer Geburt befunden haben: eine Verschmelzung von Zeit und Raum, in der die Vor- und die Nach-Existenz eins werden. Seit das japanische Zentrum für Hochenergiephysik die Ergebnisse des umstrittenen CERN-Experiments bestätigt hat, nach dem sich Neutrinos schneller bewegen als das Licht, lässt mich der Gedanke nicht mehr los, dass Platon richtiger liegt, als die meisten Leute je gedacht hätten. Nicht zuletzt Einstein, dessen Vorstellung von einer speziellen Relativität damit völlig ausgehebelt wurde.
    Über die Tatsache, dass zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit eine einheitliche Theorie der Physik in greifbare Nähe gerückt war, dachte ich erst viel später im Zusammenhang mit dem Angriff von Kind Eins und den anderen, die noch folgen sollten, nach. Doch die Wahrnehmung ist immerpersönlich. Anfangs betrachteten manche die Gräueltaten als Symptom einer verwöhnten Generation, die in einer Welt, in der die Zukunft der Menschheit durch Unachtsamkeit und Misswirtschaft zerstört zu sein scheint, »pathologisch« nach Aufmerksamkeit strebt.
    Dafür hatte ich bei Freddy und seiner Gefolgschaft keine Beweise gefunden. Stilistisch gesehen erschien mir diese Interpretation auch übermäßig masochistisch. Als Anthropologe sah ich das Phänomen eher als ein krankhaftes Märchen, eine Parabel dysfunktionaler Zeiten. Letztlich hatte niemand von uns recht. Die Botschaft war in zu großen Buchstaben verfasst, in Buchstaben, die nur aus weiter Entfernung
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