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Die da kommen

Die da kommen

Titel: Die da kommen
Autoren: Liz Jensen
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Mitarbeiter mit einem Gewissen. Den sollte ich finden.
    In den meisten Organisationen gilt das Aufdecken von Missständen als Sabotage. Allerdings ist es politisch unklug, das öffentlich zu sagen. Die Broschüren von Phipps & Wexman bezeichnen dieses Phänomen vorsichtig als »Nebenhandlung in einer größeren David-und-Goliath-Geschichte zum Thema Unruhe am Arbeitsplatz«. Offiziell hielt ich mich in Taiwan auf, um den Informanten zu identifizieren, ihn zum Helden zu erklären und ihm ein großzügiges Finanzpaket oder einen »goldenen Händedruck« zu überreichen, weil er Ganjong Inc. über den Umweg der Polizei auf die Korruption in den eigenen Reihen aufmerksam gemacht hatte, zu der es – natürlich ohne Wissen der Firma – gekommen war. In Wirklichkeit war ich da, um zwecks weiterer Schadensbegrenzung eine genaue Situationsanalyse durchzuführen.
    Das Gebäude des nationalen Betrugsdezernats der Polizei in Taipeh, ein bescheidener Bau im Süden der Stadt, erinnertemich an einen riesigen Kühlschrank. Ich hielt mich mit Kaffee wach, während mir die Polizei und ein junger Journalist mit scharfen Gesichtszügen, der für seine Zeitung über den Fall berichtete, mehrere Stunden lang verschiedene Theorien über die Identität des Informanten vortrugen. Obwohl sie neugierig waren, wer dahinterstecken mochte, galt ihre Hauptsorge dem Verbrechen selbst und dem Dominoeffekt, den die Aufdeckung ausgelöst hatte. Sie schienen verwundert, dass Ganjong einen westlichen Personalfachmann hinzugezogen hatte.
    »Wir nennen es den Effekt des neutralen Außenseiters«, erklärte ich ihnen. »Mit meiner Anwesenheit vermittelt Ganjong die Botschaft, dass Ehrlichkeit belohnt und Korruption verurteilt wird. Die übliche Strategie.«
    Der Journalist mit den scharfen Gesichtszügen schnitt eine Grimasse, die ich als ironisch interpretierte, und sagte: »Die wollen ihren Arsch retten, was?« Alle lachten. Dann spekulierte er darüber, dass der geheimnisvolle Mann in Wirklichkeit weiblich sei, die Ehefrau eines Jenwai-Managers, der eine Affäre mit einem Barmädchen gehabt hatte. Daraus erwuchsen weitere Theorien: Streit unter den Arbeitern in der Produktion, ein Machtkampf zwischen leitenden Angestellten, der Versuch eines Konkurrenten, Jenwai zu sabotieren, Infiltration durch Ökoaktivisten. Den Rest des Tages verbrachte ich damit, tiefer zu bohren, fand aber nur heraus, dass die Beweise entweder schwach oder nicht existent waren.
    Wie so oft am Anfang einer Ermittlung verbringt man acht Stunden in einem überklimatisierten Büro und erfährt Dinge, die kaum mehr als Gerüchte sind. Erst später entdeckt man vielleicht ein einzelnes Detail, das zu einem größeren Muster gehört, und dann fügt sich alles zusammen. In über achtzig Prozent der Fälle passiert das leider nicht.
    Am nächsten Morgen um 8.25 Uhr traf ich mich im Sägewerk am Rande von Taipeh mit Mr Yeh, dem einzigen Jenwai-Manager, der nicht in den Skandal verwickelt war: Zum Zeitpunkt der illegalen Holzgeschäfte war er wegen Darmkrebs behandelt worden. Die Luft war feucht und pulsierte in einer schweren, aufgeladenen Hitze, die von Donner kündete. Am Himmel zeichneten sich die wellenförmigen Wolkenmuster von altocumulus castellanus und altocumulus floccus ab.
    Die Firma selbst war ein funktionelles Lagerhaus auf einem Gelände, das von einem hohen Zaun umgeben war. Im Bürotrakt nahe des Eingangstores begrüßte mich der skelettartige Mr Yeh mit einem trockenen Handschlag, und wir tauschten unsere Visitenkarten aus. Ich nahm seine mit beiden Händen entgegen, wie es hier Brauch ist. Seine Kopfhaut, die den unverwechselbaren gelblich grauen Farbton namens Flussperle aus dem Katalog der Firma Dulux von 1997 aufwies, sah beängstigend dünn und vertrocknet aus.
    »Es freut mich, Sie kennenzulernen, Mr Lock. Sie sind sehr groß.« Dann lachte er. In der chinesischen Kultur verbirgt man seine Verlegenheit manchmal hinter Belustigung.
    »Ein Meter achtundneunzig«, beeilte ich mich zu sagen. »Aber ich habe aufgehört zu wachsen, versprochen.« Ich setzte diesen Scherz ein, um das Eis zu brechen, doch Yeh lachte nicht darüber, wie es die Leute im Westen tun. Also neigte ich den Kopf und erklärte auf Chinesisch, es sei mir eine Ehre, ihn kennenzulernen. Das funktionierte besser: Sein Gesicht verzog sich zu einem leichenhaften Lächeln, und er gratulierte mir zu meinen Sprachkenntnissen. Ich erwiderte, Sprachen seien mein Hobby, obwohl mein Chinesisch leider sehr
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