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Die Chirurgin

Die Chirurgin

Titel: Die Chirurgin
Autoren: Tess Gerritsen
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Augenschein. Es gab dort eine alte Scheune und einen Teich, der ganz mit grünem Schleim bedeckt war. Eine einsame Stockente paddelte lustlos im Wasser umher, vermutlich ausgestoßen von ihren Artgenossen. So etwas wie ein Garten war nicht einmal ansatzweise zu erkennen – nur kniehohes Unkraut und Gras und noch mehr Stechmücken. Jede Menge davon.
    Reifenspuren führten zur Scheune. Ein Streifen Gras war vor nicht allzu langer Zeit von einem Fahrzeug plattgedrückt worden.
    Eine letzte Stelle, wo sie noch nachsehen konnte.
    Sie stapfte über die zerdrückte Grasbahn auf die Scheune zu und hielt inne. Sie hatte keinen Durchsuchungsbefehl, aber wer würde je davon erfahren? Sie würde nur einen kurzen Blick hineinwerfen, um sich zu vergewissern, dass kein Wagen da war.
    Sie packte die Handgriffe und zog die schweren Türen auf.
    Das einfallende Sonnenlicht trieb einen schrägen Lichtkeil durch das Halbdunkel der Scheune. Staubkörnchen wirbelten in dem plötzlichen Luftzug umher. Rizzoli stand stocksteif da und starrte den Wagen an, der in der Scheune geparkt war.
    Es war ein gelber Mercedes.
    Eiskalter Schweiß rann ihr über das Gesicht. Es war so still – bis auf das Summen einer Fliege irgendwo im Schatten war es hier einfach viel zu still.
    Sie erinnerte sich nicht mehr, dass sie ihr Halfter aufgeknöpft und nach ihrer Waffe gegriffen hatte. Aber da war sie urplötzlich in ihrer Hand, als sie langsam auf den Wagen zuging. Sie warf einen kurzen Blick durch das Fahrerfenster und sah, dass niemand drinsaß. Dann schaute sie sich den Innenraum noch einmal etwas gründlicher an, und ihr Blick fiel auf einen dunklen Gegenstand, der auf dem Beifahrersitz lag. Eine Perücke.
    Wo kommen die Haare für Perücken überwiegend her? Aus dem Fernen Osten.
    Die schwarzhaarige Frau.
    Sie erinnerte sich an das Überwachungsvideo aus dem Krankenhaus von dem Tag, als Nina Peyton ermordet wurde. Auf keinem der Bänder hatten sie Warren Hoyt in der Station 5 West ankommen sehen.
    Weil er die Chirurgie als Frau betreten und als Mann wieder verlassen hatte.
    Ein Schrei.
    Sie fuhr herum, blickte mit pochendem Herzen zum Haus. Cordell?
    Wie der Blitz schoss sie aus der Scheune heraus, rannte durch das hohe Gras direkt auf die Hintertür des Hauses zu.
    Sie war verschlossen.
    Ihre Lungen arbeiteten wie Blasebälge, als sie ein paar Schritte rückwärts ging und die Tür, den Rahmen musterte. Eine Tür einzutreten hatte mehr mit Adrenalin als mit Muskelkraft zu tun. Als junge, unerfahrene Polizistin und als einzige Frau im Team war Rizzoli einmal aufgefordert worden, die Wohnungstür eines Verdächtigen einzutreten. Es war ein Test, und die Kollegen hatten alle erwartet, ja vielleicht gehofft, dass sie versagen würde. Doch Rizzoli hatte all ihren Ärger, all ihre Wut auf diese Tür konzentriert. Mit nur zwei Tritten hatte sie das Holz zersplittert und war wie ein Wirbelwind hineingestürmt.
    Und so wie damals rauschte auch jetzt das Adrenalin durch ihre Adern, als sie den Rahmen ins Visier nahm und kurz hintereinander dreimal schoss. Dann trat sie mit dem Absatz krachend gegen die Tür. Das Holz splitterte. Sie trat noch einmal zu. Diesmal flog die Tür auf, und im nächsten Moment war sie drin und suchte in geduckter Haltung den Raum ab, die Waffe in den ausgestreckten Händen immer in Blickrichtung haltend. Es war eine Küche. Die Rollos waren geschlossen, doch das Licht reichte aus, um zu erkennen, dass niemand hier war. Schmutziges Geschirr in der Spüle. Der Kühlschrank brummte und gluckste.
    Ist er hier! Lauert er im Nebenzimmer auf mich?
    Verdammt, sie hätte eine kugelsichere Weste anziehen sollen. Aber mit so etwas hatte sie nicht gerechnet.
    Schweißperlen rannen zwischen ihren Brüsten herab, wurden von ihrem Sport-BH aufgesogen. Sie erblickte ein Telefon an der Wand. Schlich sich hin und nahm den Hörer ab. Kein Amtszeichen. Keine Möglichkeit, Verstärkung zu rufen. Sie ließ den Hörer baumeln und rückte vorsichtig zur Tür vor. Spähte hindurch und erblickte ein Wohnzimmer mit einer abgewetzten Couch und ein paar Stühlen.
    Wo war Hoyt? Wo?
    Sie betrat das Wohnzimmer. Sie hatte es schon halb durchquert, als ihr Piepser zu vibrieren begann, was ihr einen kleinen Schreckenslaut entlockte. Mist. Sie stellte das Gerät aus und setzte ihren Weg durch das Wohnzimmer fort.
    In der Diele blieb sie stehen und starrte ungläubig auf die Haustür.
    Sie stand weit offen.
    Er ist nicht mehr im Haus.
    Sie trat hinaus auf die Veranda.
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