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Die Chirurgin

Die Chirurgin

Titel: Die Chirurgin
Autoren: Tess Gerritsen
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dass sie nichts klaut.
    Dann wirft er einen Blick ins Schlafzimmer. Er sieht Diana Sterling, und jetzt verschwendet er keinen Gedanken mehr an etwas so Belangloses wie Diebstahl. Er will nur so schnell wie möglich aus der Wohnung raus, bevor es ihm hochkommt.
    Ich wäre gerne da, wenn die Polizei eintrifft, aber ich bin nicht dumm. Ich weiß, dass sie jedes Auto, das im Schritttempo vorbeifährt, genau unter die Lupe nehmen werden, jedes Gesicht, das sie aus der Schar von Schaulustigen auf der Straße anstarrt. Sie wissen, wie sehr es mich danach drängt, zum Tatort zurückzukehren. Selbst jetzt, da ich im Starbuck’s sitze und zusehe, wie es draußen allmählich heller wird, spüre ich, wie mich dieses Zimmer zurückruft. Aber ich bin wie Odysseus, sicher an den Mast meines Schiffs gefesselt, während ich mich nach dem Gesang der Sirenen verzehre. Ich werde nicht zulassen, dass mein Schiff an den Felsen zerschellt. Diesen Fehler werde ich nicht machen.
    Stattdessen sitze ich hier und trinke meinen Kaffee, während draußen die Stadt Boston zum Leben erwacht. Ich rühre drei Teelöffel Zucker in meine Tasse –, ich trinke meinen Kaffee nun mal gerne süß. Ich will, dass alles genau so ist – einfach vollkommen.
    In der Ferne heult eine Sirene; sie ruft mich. Ich fühle mich wie Odysseus, der sich gegen seine Fesseln sträubt. Doch sie lassen sich nicht zerreißen.
    Heute werden sie ihre Leiche finden.
    Und sie werden wissen, dass wir wieder da sind.

1
    Ein Jahr später
    Detective Thomas Moore hasste den Geruch von Latex. Während er sich die Handschuhe überstreifte und dabei ein Wölkchen von Talkumpuder aufwirbelte, verspürte er den gewohnten Anflug von Übelkeit angesichts dessen, was ihm bevorstand. Dieser Gummigeruch war mit den unerfreulichsten Aspekten seines Jobs verknüpft, und wie ein Pawlowscher Hund, der aufs Stichwort Speichel absondert, hatte er gelernt, den Geruch mit Blut und Körperflüssigkeiten in Verbindung zu bringen. Ein olfaktorisches Alarmsignal.
    Und so war er bereits gewappnet, als er vor der Tür des Autopsiesaales stand. Er war direkt aus der prallen Hitze hereingekommen, und schon fühlte sich der Schweiß auf seiner Haut kühl an. Es war der zwölfte Juli, ein schwülwarmer, dunstiger Freitagnachmittag. In ganz Boston arbeiteten die Klimaanlagen auf Hochtouren, und die Nerven der Menschen lagen blank. Auf der Tobin Bridge würde sich schon ein Stau gebildet haben, weil alles sich nach Norden in die kühlen Wälder von Maine flüchtete. Aber Moore würde nicht zu den Flüchtenden gehören. Er war aus dem Urlaub zurückgerufen worden, um sich einem entsetzlichen Anblick zu stellen, den er sich gerne erspart hätte.
    Er trug bereits die OP-Kleidung, die er sich vom Wäschewagen des Leichenschauhauses genommen hatte. Jetzt setzte er sich noch eine Papierhaube auf, die verirrte Haare auffangen sollte, und zog Überschuhe aus Papier an, denn er hatte gesehen, was manchmal von den Tischen auf den Boden tropfte und klatschte. Blut, Gewebefetzen. Er war alles andere als ein Sauberkeitsfanatiker, aber er legte keinen Wert darauf, irgendwelche Souvenirs aus dem Autopsiesaal an seinen Schuhen nach Hause zu tragen. Vor der Tür hielt er noch ein paar Sekunden inne und holte tief Luft. Dann betrat er den Raum, bereit, die Tortur über sich ergehen zu lassen.
    Die verhüllte Leiche lag auf dem Seziertisch – der Figur nach zu urteilen eine Frau. Moore vermied es, das Opfer allzu eingehend zu betrachten, und konzentrierte sich stattdessen auf die lebenden Menschen im Saal. Dr. Ashford Tierney, der amtliche Leichenbeschauer, und ein Mitarbeiter des Leichenschauhauses waren damit beschäftigt, die Instrumente auf einem Tablettwagen zu arrangieren. Auf der anderen Seite des Tisches stand Jane Rizzoli, die wie er bei der Bostoner Mordkommission arbeitete. Rizzoli war dreiunddreißig Jahre alt, eine kleine Frau mit scharf geschnittenen Zügen. Ihre widerspenstigen Locken waren von der Papierkappe verdeckt, und ohne den mildernden Effekt ihrer schwarzen Haare schien ihr Gesicht nur aus harten Kanten zu bestehen. Der Blick ihrer dunklen Augen war forschend und intensiv. Sie war vor sechs Monaten vom Rauschgift- und Sittendezernat in die Mordkommission versetzt worden. Dort war sie die einzige Frau, und trotz der Kürze der Zeit hatte es bereits Probleme zwischen ihr und einem anderen Detective gegeben, Vorwürfe wegen sexueller Belästigung, die durch Gegenvorwürfe wegen unausgesetzter Gehässigkeit
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