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Die Buchmalerin

Die Buchmalerin

Titel: Die Buchmalerin
Autoren: Beate Sauer
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entfernt ein Rascheln hörte. Hastig duckte er sich, griff nach dem Messer, das er im Gürtel trug, und drehte sich um. Doch es war nur der Knabe, der, wenige Armlängen von ihm entfernt, den Hang hinaufkroch. Voller Angst blickte der Junge immer wieder über die Schulter, während er sich, so schnell er konnte, an Zweigen und Ranken emporzog. Warum auch immer der Diener des Kardinals den Jungen aufgehalten haben mag, dachte Roger, er hat dem Burschen jedenfalls einen panischen Schrecken versetzt.

    *

    Nachdem Léon in der zerstörten Kirche angelangt war und den Schnee von dem Leichnam entfernt hatte, betrachtete er ihn prüfend, wich dabei jedoch den starren Augen aus. Es war nicht gut, dem Blick eines Toten zu begegnen. Unter der dünnen Flockenschicht stach die Masse der gefrorenen Eingeweide rot hervor. Zusätzlich zur Totenstarre war auch die eisige Kälte in den Körper des Mönchs gedrungen. Der Diener breitete ein Tuch aus Sackleinwand auf dem Boden aus. Danach brach er, ohne viel Kraft aufwenden zu müssen, die dürren Gliedmaßen des Leichnams – anders konnte er ihn nicht auf seinem Pferd wegschaffen – und schlug den groben Stoff um den kalten Körper.
    Léon bückte sich erneut, wollte den Toten aufheben. Doch eine Spur im Schnee erregte seine Aufmerksamkeit. Der Wind hatte ihre Kanten abgeschliffen, dennoch unterschied sie sich von den Spuren, die sein Herr, er selbst und die anderen beiden Männer während der vergangenen Nacht hinterlassen hatten. Sie wirkte frischer. Außerdem führte sie von der Apsis quer durch die Ruine und nach draußen. In der Nacht zuvor hatte Léon selbst überprüft, ob sich jemand hinter dem Altar verbarg. Doch dies waren nicht seine Fußtritte. Er fluchte und lief in den rückwärtigen Teil der Ruine. In dem gemauerten Altar befand sich ein breiter Spalt, daneben lagen Steine. Hastig kauerte sich Léon nieder.
    Nachdem er den Spalt mit einigen raschen Griffen erweitert hatte, schob er die Schultern hindurch und tastete den Hohlraum ab. Der Boden war mit einer dicken Schicht trockenen Laubs bedeckt, das nicht der Wind hineingetragen haben konnte. Seine Hände, die rasch durch die Blätter fuhren, stießen gegen etwas, einen kleinen, unförmigen Klumpen. Léon zog ihn heraus und starrte verdutzt auf einen Brotkanten. Er fühlte sich kalt an, fast gefroren. Aber als der Diener des Kardinals ihn auseinander brach und mit den Fingern über die Innenseite des Brotes strich, stellte er fest, dass diese noch weich war. Wer auch immer das Brot im Altarsockel zurückgelassen hatte, er hatte es vor nicht allzu langer Zeit getan.
    Der Diener hastete zum Portal der Ruine. Als er das Tal überblickte, erkannte er die Tritte seines Pferdes in der weißen, funkelnden Decke, die über dem Land lag. Auch die Fährten, die die Tiere während der vergangenen Nacht gezogen hatten, waren noch schwach sichtbar. Andere konnte er zuerst nicht ausmachen. Aber als er seinen Blick noch einmal über die verschneite ehemalige Umfriedung wandern ließ, entdeckte er erneut die Fußtritte. Sie führten auf ein Gebüsch zu und von dort aus weiter bis zum Waldrand auf der anderen Seite der Lichtung. Ihre Umrisse waren merkwürdig klein. Zu klein für einen Mann. Sie verliefen in die Richtung, wo er, zwei Wegstunden entfernt, den Jungen getroffen hatte.
    Sein Misstrauen, als er dem Knaben in dieser Einöde begegnet war, hatte ihn also nicht getrogen. Der Junge hatte Angst gehabt, das hatte er deutlich gespürt. Bei Gott, er wünschte sich, dass er seiner Ahnung gefolgt wäre. Dann hätte er aus dem Burschen schon herausgebracht, warum er sich in dieser abgelegenen, unwirtlichen Gegend aufhielt.
    Eilig kehrte Léon in die Ruine zurück, hob den Leichnam des Dominikaners hoch und schnallte ihn auf dem Rücken des Pferdes fest. Viel Zeit würde es nicht beanspruchen, den Toten verschwinden zu lassen. Anschließend würde er dem Knaben folgen.

    *

    Im Schutz einer Felsgruppe beobachtete Roger, wie Léon das dicke Eis eines Waldteichs mit einer Hacke bearbeitete. Ein Gutes hatte der hohe Schnee. Der Diener hatte das Pferd häufig nur im Schritt gehen lassen können. Außerdem war es bis zum Morgen des Vortags wärmer gewesen und der Schnee in den unteren Schichten deshalb feucht und klebrig. Léon hatte oft absteigen und den Matsch entfernen müssen, der sich zwischen Horn und Eisen festgesetzt hatte. Darum hatte Roger den Vorsprung des Dieners immer wieder aufholen können. Er war froh, dass er nicht auf ein
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