Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Brueder

Die Brueder

Titel: Die Brueder
Autoren: Jan Guillou
Vom Netzwerk:
Staat sei eine leichte Beute. Kein Wunder, dass die ganze Welt während des den Deutschen aufgezwungenen Krieges mit Deutschland sympathisierte. Ein Segen, dass Deutschland gesiegt hatte! Seither hatte Deutschland in vollkommenem Frieden mit seinen Nachbarn gelebt.
    Und obwohl man natürlich nur schwer in die Zukunft schauen konnte, stand zumindest eins fest: Bald würde sich England erneut mit Frankreich im Krieg befinden, wahrscheinlich aufgrund eines Konflikts über den Sudan oder ein anderes Gebiet in Afrika. Gegen Deutschland würde England natürlich nie einen Krieg führen.
    »Wenn du dich also fragst, warum du manierliches Deutsch, aber miserables Französisch sprichst, dann hast du jetzt die Antwort!«, beendete sein Vater seine leidenschaftliche Lobrede auf das Land des Friedens und der schönen Künste, das sich während der letzten Jahre nun auch noch auf dem Gebiet der Technik als führend erwiesen hatte.
    Von Neuem hatte ihn sein Vater in eine Sackgasse bug­siert, die nur einen Beschluss erlaubte. In einem Land zu studieren, das in der nahen Zukunft erneut Feindesland werden würde, war natürlich unklug. Das machte Deutschland zum Land der Wahl, und Albie war überredet. Er weinte auch nicht den frohen Pariser Zeiten nach, die ihm nun entgehen würden, denn eigentlich war ihm bewusst, dass seine ohnehin mäßige Studiendisziplin an der Sor­bonne rasch in einem Vergnügungsstrudel untergegangen wäre. Nicht umsonst war Paris Oscar Wildes europäische Lieblingsstadt.
    Blieb also nur noch die formale Kapitulation.
    »Und wo in Deutschland soll ich diese Maschinen studieren? Was schwebt dir vor, Vater?«, fragte er gemessen.
    »In Dresden. Dort erhält man gegenwärtig nicht nur die meiner Meinung nach – sollen sie in Cambridge sagen, was sie wollen – beste technische Ausbildung der Welt. Gute Reise, mein lieber Sohn! «
    Mit augenscheinlicher, geradezu selbstverständlicher Leichtfertigkeit hatte ihn sein Vater in die Arme Sverres getrieben, obwohl sie sich beide in diesem Augenblick keine solche Laune des Schicksals hätten vorstellen können.
    Nach wenigen Wochen in Dresden war es ihm ge­lungen, ein Abonnement für die Semperoper zu ergattern, in der er natürlich Gleichgesinnten begegnete und auch Sverre. Nach der Vorstellung trafen sich die Opernbegeisterten beim Opernverein, um zu kritisieren und zu diskutieren und auch um, wenn nötig – und das war es fast immer – ein paar Gläser zu trinken.
    Als Erstes fielen ihm an Sverre auf die Entfernung und im Gedränge seine Kleidung und die handgenähten Schuhe auf. Aber es verstrich noch eine Weile, bis sie, ohne sich auffällig darum zu bemühen, in einer kleinen Gesellschaft gemeinsam in die Stadt zogen.
    Seit jenem Mal, besser gesagt seit jenem Augenblick, denn es gab einen bestimmten Augenblick, als sie sich zum ersten Mal richtig sahen, war Sverre ständig bei ihm, wenn auch zu Anfang vor allem in seiner Fantasie. Seither wuchs ein immerhin von schönsten Rosenranken umschlungener Lügenturm höher und höher.
    Nun, direkte Lügen waren es nicht, eher Ausflüchte und Unausgesprochenes, was aber auf dasselbe hinauslief. Er selbst wusste alles über Sverres Leben, über die Kleinstadt Bergen, die malerische, felsige Insel, die Fischerboote, die wütenden Stürme, die tragischen Todesfälle des Vaters und Onkels, die aus sechs Kindern Halbwaisen machten, und die Lehrlingszeit in der Seilerei.
    Aber was wusste Sverre über ihn? Dass er eine Art Schafzüchter aus der englischen Provinz war.
    Sie konnten einander in den Sommerferien nicht nach Hause einladen, was sich bequem damit erklären ließ, dass Sverres Mutter tiefreligiös war und feste Vorstellungen davon hatte, was eine normale Sünde und was ein Frevel war. Und sein radrennsportbesessener ältester Bruder war offenbar ebenso reaktionär borniert wie intolerant.
    In diesem Umfeld hätte jede noch so kleine, unvorsichtige Zärtlichkeit sie verraten, und davor fürchtete sich Sverre ganz offensichtlich. Das funktionierte zumindest als Ausrede, was Norwegen betraf.
    Albie formulierte seine Ausrede vager. Vermutlich hätte sein Vater besorgt die Stirn gerunzelt, mehr aber nicht, wenn er einen norwegischen Kommilitonen, der eindeutig mehr war als ein Kommilitone, mitgebracht hätte.
    Albies Vater unterschied sich sehr von Sverres Mutter. Schon immer hatte er großes Verständnis für junge Männer aufgebracht, die sich, bevor sie sich auf ihre Pflicht besannen und eine Familie gründeten,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher