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Die Brueder

Die Brueder

Titel: Die Brueder
Autoren: Jan Guillou
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überzeugen, dass er sehr ernsthaft ihr gemeinsames Leben vorbereitete. Ob gut oder schlecht, die Entscheidung rückte näher. Diese Erkenntnis war erschreckend, aber auch erleichternd.
    *
    Im Nachhinein musste Sverre zugeben, dass er es mit einem Minimum an Aufmerksamkeit und simpelster Kombinationsgabe hätte vermeiden können, so vollkommen überrumpelt zu werden. Beispielsweise hätte ihm auffallen müssen, dass sie auf dem trubeligen Bahnhof der London & South Western Railway in Salisbury nicht von einer gewöhnlichen Droschke, sondern von einer Pferdekutsche abgeholt wurden, deren Türen kein gewöhnliches Stadtwappen zierte.
    Dass Albie und er wie selbstverständlich ihre neunzehn Gepäckstücke unbewacht zurückließen, deutete er als eine charmante Eigenheit der englischen Provinz, wo offenbar keine Gefahr bestand, dass jemand eine der auffällig teuren Reisetaschen oder einen der wertvollen Koffer stahl. Dies und anderes hätte er bereits bei seiner Ankunft in Salisbury zumindest ansatzweise verstehen müssen.
    Möglicherweise hatten ihn seine ausgeprägten Fantasiebilder blind für die Realität gemacht. Er hatte sich bis ins kleinste Detail ausgemalt, wie es bei Albie zu Hause aussah. Ein hübscher Bauernhof auf einer Anhöhe, umgeben von grünen Wiesen, ein lang gestrecktes Gebäude mit hellen Kalksteinmauern, ein paar Scheunen und Schuppen, etwa hundert Schafe, die in der Umgebung weideten, ein vornehmer Hof etwas feinerer Leute.
    Ihr Wagen hatte bald das offene Land erreicht. Es war ein Sommertag mit einem fast wolkenlosen Himmel und in Anbetracht der ständigen Klagen der Engländer über ihr Wetter erstaunlich warm.
    Albie unterhielt sich anfangs fröhlich mit dem Kutscher in einem Sverre kaum verständlichen Dialekt. Aber recht bald verstummte er und schien sich in Gedanken zu verlieren.
    Sie fuhren an mindestens drei Höfen vorbei, die Sverres Vorstellungen entsprachen, dann ging es durch einige idyllische Dörfer mit Bruchsteinhäusern, Rosen und Stroh­dächern. Sehr englisch.
    »Ist es noch weit?«, fragte Sverre, nachdem sie für ihre Verhältnisse ungewöhnlich lange geschwiegen hatten.
    »Nein. Keine zwanzig Minuten mehr«, antwortete ­Albie. »Ich habe übrigens eine Überraschung für dich vorbereitet, die mit unserer Arbeit zu tun hat. Ich hoffe, sie wird dich freuen.«
    Sverre fiel keine passende Antwort ein. Und da es ja eine Überraschung sein sollte, konnte er keine Fragen stellen. Außerdem klang Albie seltsam fremd, fast abwesend.
    Soeben hatten sie ein Dorf durch das schmiedeeiserne Tor in einer drei Meter hohen Ziegelmauer verlassen. Die Wärter hatten das Tor geöffnet, salutiert und keinerlei Anstalten gemacht, Passiergelder oder irgendwelche Reise­dokumente einzufordern.
    Und schon fuhren sie wieder durch die Landschaft.
    Weiter ging es an ein paar Teichen vorbei, auf denen Enten und Schwäne schwammen, dann durch einen lichten Eichenwald mit majestätischen, viele hundert Jahre alten Bäumen, unter denen große Hirschrudel ästen.
    »Was sind das für Hirsche?«, fragte Sverre. »Solche habe ich noch nie gesehen.«
    »Das ist Damwild, es ist hier in der Gegend recht zahlreich«, antwortete Albie.
    Damit war die Unterhaltung schon wieder zu Ende. ­Albie wirkte immer noch seltsam angespannt. Da ging Sverre plötzlich auf, dass es sich bei dem hohen Eisentor um eine Ein- und nicht um eine Ausfahrt gehandelt hatte.
    Von dem schmalen Sandweg, der sich zwischen den Eichen hindurchschlängelte, sahen sie ein sehr großes Gebäude, ein Krankenhaus, eine Kaserne oder irgendeine andere öffentliche Einrichtung, die auf dem Land völlig deplatziert wirkte. Von dem weißen Bauernhof auf der Anhöhe war immer noch nichts zu sehen.
    Als sie sich wenig später dem imposanten Bauwerk näherten, erkannte Sverre, dass der Weg auf einem großen Vorplatz vor einer breiten Freitreppe und einem hohen Portal endete. Auf den unteren Treppenstufen hatten sich mehrere Personen aufgestellt.
    Albie holte tief Luft und schloss die Augen, als stünde ihm eine große Anstrengung bevor. Dann erteilte er grimmig seine Anweisungen.
    »Wir gehen von rechts nach links. Zuerst begrüße ich alle, dann stelle ich dich vor. Meiner Mutter, meinen Schwestern und meiner Großmutter küsst du die Hand, bei den anderen genügt ein Händedruck!«
    Sverre saß wie versteinert da. Die Szenerie war nicht misszuverstehen, so wenig wie die knappe Anweisung ­Albies. Mit diesem Schloss und einer Adelsfamilie hatte er nun
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