Die Brücke am Kwai
Soldaten auf der Brücke über den Kwai-Fluß wahr.
6
Shears bemerkt die japanischen Soldaten und durchlebt neue Todesängste.
Auch für ihn verrinnt die Zeit in einem unbarmherzig verlangsamten Tempo. Nach der Verwirrung, die das Auftauchen der Sprengladungen bei ihm hervorrief, hat er sich wieder gefaßt. Er hat die Partisanen auf ihrem Posten belassen und ist den Hang ein Stück hinaufgestiegen. Er ist an einer Stelle stehengeblieben, von der aus er einen Gesamtüberblick auf die Brücke über den Kwai-Fluß hat.
Mit dem Fernglas hat er die kleinen Wellen um die Pfeiler herum entdeckt und geprüft. Er hat geglaubt, ein Stück einer braunen Masse je nach dem Spiel der Wellen aus dem Wasser auftauchen und verschwinden zu sehen. Unwillkürlich, notgedrungen und pflichtgemäß hat er sich leidenschaftlich den Kopf zergrübelt, wie er durch persönliches Eingreifen diesen Schicksalsschlag bannen könnte. »Man kann immer noch etwas tun, man kann immer noch etwas versuchen«, sagen die vorgesetzten Stellen der »Force 316«.
Zum ersten Male, seit er diesen Beruf ausübt, ist Shears nichts eingefallen, und er verflucht seine Machtlosigkeit.
Er hat ausgespielt! Er kann ebensowenig dagegen tun wie Warden, der von da oben zweifellos gleichfalls diesen gemeinen Verrat des Kwai-Flusses festgestellt hat. Und Joyce? Aber hat er überhaupt diese Veränderung bemerkt? Und wer weiß, ob er die Willenskraft aufbringen und die Reflexhandlungen vornehmen wird, die diese tragischen Situationen verlangen? Shears, der schon früher den Umfang von Hindernissen, die in einem derartigen Fall zu überwinden sind, ermessen hat, macht sich bittere Vorwürfe, daß nicht er Joyces Stellung eingenommen hat.
Zwei ewig lange Stunden sind vergangen. Von der Stelle aus, zu der er hinaufgestiegen ist, erkennt er die Baracken des Lagers. Er hat ein Hin- und Hergehen von japanischen Soldaten in Paradeuniform gesehen. Eine ganze Kompanie steht dort ungefähr hundert Meter vom Fluß entfernt und wartet auf den Zug, um den Obrigkeiten, die die Bahnlinie einweihen sollen, ihre Ehrenbezeigungen zu erweisen.
Werden die Vorbereitungen dieser Feierlichkeit vielleicht ihre Aufmerksamkeit ablenken? Shears hat es gehofft. Doch eine japanische Streife, die von dem Wachposten abzieht, marschiert auf die Brücke zu.
Die Männer, denen ein Unteroffizier vorausgeht, begeben sich in zwei Reihen auf jede Seite der Brücke. Sie marschieren langsam einher in ziemlich salopper Haltung, das Gewehr lässig über die Schulter gehängt. Sie haben den Auftrag, vor der Überfahrt des Zuges einen letzten Blick auf die Brücke zu werfen. Dann und wann bleibt einer von ihnen stehen und lehnt sich über das Brückengeländer. Sie entledigen sich dieser Formalität offensichtlich nur, um ihr Gewissen zu beruhigen und die erhaltenen Befehle auszuführen. Shears bildet sich ein, daß sie es ohne innere Anteilnahme tun, und das stimmt wahrscheinlich auch. Der Brücke über den Kwai-Fluß kann nichts zustoßen, denn sie haben sie mit eigenen Augen in diesem verlassenen Tal entstehen sehen. »Sie schauen sie an, ohne etwas zu sehen«, wiederholt er sich, während er ihrem Vorrücken folgt. Jeder ihrer Schritte hallt in seinem Kopf wider. Er zwingt sich dazu, kein Auge von ihnen zu lassen und die einfachsten ihrer Bewegungen genau zu beobachten, während er in seinem Herzen unbewußt ein unbestimmtes Gebet an einen Gott, einen Dämon oder an irgendeine geheimnisvolle Macht richtet. Er schätzt mechanisch ihre Geschwindigkeit ab und ebenso den von ihnen in jeder Sekunde durchschrittenen Brückenabschnitt. Die Mitte haben sie überschritten. Der Unteroffizier lehnt sich an das Brückengeländer und spricht mit dem ersten Mann, indem er mit dem Finger auf den Fluß deutet. Shears beißt sich in die Hand, um nicht laut aufzuschreien. Der Unteroffizier lacht. Wahrscheinlich macht er seine Bemerkungen über den gesunkenen Wasserstand. Die Soldaten gehen zurück. Shears hat richtig geraten: sie schauen, aber sie sehen nichts. Ihm scheint, als übte er, indem er sie so mit seinen Augen begleitet, einen Einfluß auf ihre Wahrnehmungen aus. Eine Art Fernsuggestion … Der letzte Mann ist verschwunden. Ihnen allen ist nichts aufgefallen…
Sie kommen zurück. Sie gehen über die Brücke in entgegengesetzter Richtung in der gleichen, ungezwungenen Haltung. Einer von ihnen lehnt sich mit seinem Oberkörper über den gefährlichen Abschnitt und nimmt dann wieder seinen Platz in der Streife
Weitere Kostenlose Bücher