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Die Braut im Schnee

Die Braut im Schnee

Titel: Die Braut im Schnee
Autoren: Jan Seghers
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sie stehen und sahen zu, wie auf dem Hof eine große weiße Plane aufgespannt wurde, um den Platz vor dem heftiger werdenden Schneefall und vor den Blicken der Schaulustigen zu schützen. Walter Schilling, der Chef der Spurensicherung, hob abwehrend die Hände, als er die beiden Neuankömmlinge bemerkte. «Bleibt, wo ihr seid», rief er. «Ich bin gleich bei euch.»
    Marthaler trat von einem Bein aufs andere. Er spürte, wie der Schneeregen bereits durch den Stoff seiner Hose drang. Er griff in die Innentasche seiner Jacke und zog eine Packung Mentholzigaretten hervor, überlegte es sich aber anders und steckte sie wieder ein.
    Zwei Minuten später kam Schilling auf sie zugestapft. «So eine Sauerei», sagte er.
    «Was meinst du?», fragte Marthaler.
    Schilling sah in den Himmel. «Den Schnee», sagte er, «ausgerechnet jetzt.» Dann machte er eine Kopfbewegung in Richtung des Hauses. «Und das da meine ich natürlich auch.»
    «Wann seid ihr fertig?»
    Schilling schüttelte den Kopf. Seine Worte kamen stockend. «Keine Ahnung. Das Gebäude ist groß. Anscheinend hat die Frau hier allein gewohnt. Wir müssen alles untersuchen. Und eins ist sicher: Das hier wird keine Routine.»
    Marthaler wartete, dass sein Kollege weitersprach, aber Schilling zog den Kopf zwischen die Schultern und schwieg.
    «Also, berichte!», forderte Marthaler ihn auf.
    Der Chef der Spurensicherung setzte an, etwas zu sagen, brach aber wieder ab. «Nein, bitte, wartet noch zehn Minuten. Unser Kameramann ist bald fertig. Dann könnt ihr in den Hof, um euch das Opfer selbst anzuschauen.»
    «Wer ist die Frau? Wie alt? Wie ist sie umgekommen? Wann? Irgendwas musst du doch sagen können. Wie sollen wir anfangen zu arbeiten, wenn wir nichts wissen.»
    Schilling sah Marthaler direkt in die Augen, dann begann er zögernd zu sprechen: «Wie es aussieht, wurde sie erdrosselt. Vielleicht mit einem Strick, eher wohl mit einem Gürtel. Wir nehmen an, dass es sich um die Bewohnerin des Hauses handelt. Ihr Name ist Gabriele Hasler. Ich schätze sie auf Ende zwanzig, Anfang dreißig. Wahrscheinlich wurde sie im Innern des Hauses getötet. Es gibt Schleifspuren, die von der Haustür bis in den Hof führen. Ihre Leiche wurde   … ich weiß nicht, wie ich es nennen soll   … sie wurde ausgestellt. Es sieht aus, als habe man sie drapiert.»
    Marthaler wollte nachhaken, aber Schilling kam ihm zuvor: «Robert, bitte, zehn Minuten! Dann könnt ihr euch selbst ein Bild machen.»
    Marthaler nickte. Er drehte sich um und ging wortlos davon. Er nahm den Weg durch die Felder. Einmal blieb er stehen. Die feuchte Jacke hing schwer an ihm herab. Nicht weit von ihm standen drei große Gewächshäuser. Das mittlere war hell erleuchtet. Marthaler sah, wie sich im Inneren eine schemenhafte Gestalt bewegte. Er steckte sich eine Zigarette an, aber schon nach den ersten Zügen hatte der Schnee die Glut wieder gelöscht. Er dachte an nichts. Er legte den Kopf in den Nacken und starrte in das Gestöber der fallenden Flocken, bis ihm schwindelig wurde. Schillings Worte hatten in seinem Kopf eine große Leere hinterlassen. Er spürte, wie ihm mit der Nässe auch das Elend dieses Morgens in die Knochen kroch. Mit einem Mal erinnerte er sich an jenen Tag in seinerKindheit, als sie mit der Grundschule einen winterlichen Ausflug unternommen hatten. Marthaler war sechs oder sieben Jahre alt gewesen. Für einen Moment war er hinter seinen Mitschülern zurückgeblieben, um sich die Schuhe zu binden. Als er wieder aufschaute, waren die anderen verschwunden. Immer wieder hatte er gerufen, aber niemand schien ihn zu hören. Schließlich hatte er sich auf seinen Schlitten gesetzt und geweint.
    Als er wieder vor dem Haus ankam, schaute er auf die Uhr. Es war kurz nach elf. Sven Liebmann nickte ihm zu. Der Kameramann der Spurensicherung packte gerade seine Ausrüstung zusammen.
    «Soll ich die eingeschaltet lassen?», fragte er und zeigte auf die beiden Scheinwerfer, die auf hohen Stativen den Fundort der Leiche beleuchteten und vor denen der Schnee zu weißem Nebel verdampfte. Marthaler verneinte stumm. Dann ging er um die weiße Plane herum.
    Der Anblick des Opfers traf ihn wie ein unerwarteter Schlag. Die Tote lag nicht, sie kniete auf dem Boden. Zuerst sah Marthaler den entblößten, in die Höhe gereckten Hintern der Frau. Instinktiv kniff er für einen Moment die Augen zusammen, sodass er das Opfer nur noch undeutlich erkennen konnte. Die Beine der Toten waren nackt und leicht gespreizt.
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