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Die Braut im Schnee

Die Braut im Schnee

Titel: Die Braut im Schnee
Autoren: Jan Seghers
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mütterlicher Freundinfür Marthaler geworden. Sie wollte gerade erst ihren Arbeitstag beginnen und hatte den Mantel noch nicht abgelegt, als die laute Stimme ihres Chefs aus dem Nebenzimmer ertönte.
    «Robert, was ist los? Kann ich dir helfen?»
    Marthaler schien sie nicht zu bemerken. In seiner Wut holte er aus und fegte mit einer einzigen Armbewegung sämtliche Unterlagen von seinem Schreibtisch. Hilflos wiederholte Elvira ihre Frage. Endlich schaute Marthaler sie an.
    «Was? Ja, hilf mir! Bestell ein Abbruchunternehmen! Sag ihnen, sie sollen den ganzen Bau dem Erdboden gleichmachen! Schau dir diese Sauerei an! Es kommt schon wieder Wasser von der Decke. Wie soll man da arbeiten? Ich will hier raus, verstehst du, ich verlange umgehend einen trockenen warmen Arbeitsplatz.»
    Elvira, die seit langem mit Marthaler zusammenarbeitete und seine gelegentlichen Wutausbrüche kannte, versuchte ihn zu beruhigen. «Warte», sagte sie, «das haben wir gleich. Ich hole rasch einen Lappen.»
    «Genau das wirst du nicht tun! Du wirst stattdessen Herrmann benachrichtigen! Er soll herkommen und sich das ansehen. Und den Chef der Haustechnik! Ich will, dass endlich etwas passiert! Drei Monate lang haben wir hier drin geschwitzt wie in einer Sauna, weil die Klimaanlage nicht funktionierte. Jetzt ist es draußen kalt, und wir müssen frieren, weil schon wieder irgendwas kaputt ist. Und nun werden wir wieder geduscht, ohne es zu wollen. Ich bleibe keine Minute länger hier.»
    Er ließ Elvira einfach stehen, nahm seine Winterjacke, verließ das Büro und warf die Tür des Vorzimmers hinter sich ins Schloss.
    Auf dem Gang begegnete ihm seine junge Kollegin Kerstin Henschel, die ihn erstaunt begrüßte. «Hallo, Robert, was ist los? Du gehst schon wieder?»
    Marthaler blieb vor ihr stehen und ruderte hilflos mit den Armen. «Ja, ich gehe», rief er, «und ich werde diese Bruchbude nicht wieder betreten.»
    Erst ein Dreivierteljahr zuvor hatten sie das riesige neue Präsidium an der Adickesallee im Frankfurter Norden bezogen. Die meisten Kollegen waren froh gewesen, endlich aus dem alten, viel zu eng gewordenen Gebäude am Platz der Republik ausziehen zu können. Manche hatten wohl auch die wochenlang dauernden Umzugsaktivitäten als willkommene Abwechslung begriffen.
    Robert Marthaler hingegen gehörte zu den wenigen, die von Beginn an ihren Unmut darüber geäußert hatten, dass sie ihre vertraute Umgebung verlassen mussten. «Unser Alltag ist turbulent genug», hatte er auf einer Sitzung gesagt. «Wir müssen uns ständig auf neue Situationen einstellen, da kann es nicht gut sein, wenn wir auch noch durch neue Büros und neue Arbeitsabläufe abgelenkt werden.» Die jüngeren Kollegen, bei denen er für seine Sturheit bekannt war, hatten gelächelt. Und er hatte gewusst, dass sein Widerstand zwecklos war. Der Umzug war vor Jahren beschlossen worden, und so blieb ihm schließlich nichts anderes übrig, als darauf zu bestehen, wenigstens seinen alten Schreibtisch mitnehmen zu dürfen.
    Als sich die Pannen in dem neuen Gebäude häuften und immer mehr Kollegen zu klagen begannen, hatte er einen leisen Triumph nur mühsam verbergen können. Man hatte sogar vergessen, Toiletten in die Arrestzellen einzubauen, sodass jetzt immer ein Beamter abgestellt werden musste, um die Häftlinge zum Klo zu begleiten. Auch machte Marthaler keinen Hehl daraus, dass er die Architektur des Neubaus nicht mochte, der wie eine kalte, leblose Kaserne aussah, einen ganzen Häuserblock umfasste und von der Bevölkerung schon bald «Bullenkloster» genannt wurde.
    Jetzt stand er in dem großen Innenhof und atmete durch. Mit einem Mal kam ihm sein Furor lächerlich vor. Er zog den Reißverschluss seiner dicken Winterjacke hoch, setzte die Wollmütze auf und streifte die Handschuhe über. Er stieg auf sein Fahrrad und fuhr den Alleenring entlang. Die Haut seiner Wangen schmerzte in der kalten Luft. Bald würde er das Rad im Keller lassen müssen. An der Eckenheimer Landstraße bog er nach links. Ein paar hundert Meter weiter, kurz hinter dem großen Supermarkt, hielt er an. Rund um den Hauptfriedhof hatten sich im Laufe der Jahrzehnte nicht nur eine ganze Reihe von Gärtnereien und Steinmetzbetrieben angesiedelt, sondern auch ein paar Cafés, deren Kundschaft vor allem aus dunkel gekleideten älteren Damen und Herren bestand. Nach den Besuchen an den Gräbern ihrer Lieben trafen sie sich hier, klagten ohne Leidenschaft, sprachen über ihre Krankheiten und die
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