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Die Braut im Schnee

Die Braut im Schnee

Titel: Die Braut im Schnee
Autoren: Jan Seghers
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Mann schaute sie an. Ein Fremder, der dennoch eine Erinnerung in ihr weckte. Dann erkannte sie ihn und begann im selben Moment zu schreien. Niemand hörte sie. Der Mann stieß sie in den Hausflur, folgte ihr und schloss hinter sich die Tür.

ZWEI
    Es war fünf Uhr, als Nikolas Schäfer am Morgen des 12.   November im Schlafzimmer seiner Wohnung in Hanau-Steinheim aufwachte. Er knipste die Nachttischlampe an, legte sich auf den Rücken und lächelte. Er ließ seine rechte Hand unter der Decke hervorgleiten, und ohne hinzuschauen begann er das Fell der Katze zu kraulen, die im Korb neben dem Bett schlief.
    Nikolas Schäfer arbeitete als Krankenpfleger in der Klinik auf dem Frankfurter Mühlberg. Er hatte seine Kollegin Rosi für den Abend zum Essen eingeladen, und diesmal hatte sie zu seiner Verwunderung sofort zugesagt. Damit sie es sich nicht anders überlegte, hatte er umgehend im Restaurant Maingau angerufen und einen Tisch für zwei Personen bestellt. Er hoffte, das würde sie davon abhalten, in letzter Minute wieder abzusagen.
    Obwohl er noch Zeit hatte, stand er zehn Minuten später bereits in der Küche und setzte Wasser auf. Er schaute auf das Außenthermometer am Fenster: Es zeigte unter zwei Grad Celsius. Er ging ins Bad, um sich zu waschen, dann zog er seinen Bademantel über, trank eine Tasse Tee und aß zwei Scheiben Toast mit Orangenmarmelade. Anschließend öffnete er den Kleiderschrank und überlegte lange, was er anziehen sollte. Fast hätte er darüber vergessen, das Radio einzuschalten. Er mochte alte Schlager und konnte viele Texte auswendig. Seine Mutter war als Sängerin durch die Tanzcafés der Umgebung gezogen, und manchmal hatte er sie an den Wochenenden oder während der Schulferien begleiten und das ein oder andere Lied mitsingen dürfen. Gerne hatte er sie angeschaut,wenn sie in der Garderobe vor dem Spiegel noch im Unterrock ihr Lächeln prüfte, dann das Kleid überstreifte und sich vor ihm drehte, als brauche sie außer ihm kein weiteres Publikum. Manchmal war am Morgen nach einem Auftritt ein fremder Mann aus ihrem Schlafzimmer gehuscht und hatte Nikolas verlegen zugenickt, bevor er die Wohnungstür hinter sich ins Schloss zog. Wenn der Junge seine Mutter später angeschaut hatte, schüttelte sie nur den Kopf und lächelte ihn an: «Keine Angst, Kleiner. Du wirst immer mein Bester bleiben.» Es waren diese Erinnerungen, die seine Behauptung nährten, eine schöne Kindheit gehabt zu haben. Ein Plakat mit dem Foto seiner Mutter, das einen ihrer Auftritte im «Rote-Rosen-Club Seligenstadt» ankündigte, hatte er nach ihrem Tod rahmen lassen und im Wohnzimmer aufgehängt.
    Als er die vertraute Stimme des Moderators hörte, drehte er das Radio ein wenig lauter: «Auf Wunsch unseres treuen Hörers Nikolas Schäfer aus Hanau-Steinheim spielen wir nun ‹Marina› in der italienischen Originalaufnahme mit Rocco Granata.» Sofort begann er mitzusummen. Er wusste, dass ihm die Melodie den ganzen Tag nicht mehr aus dem Kopf gehen würde.
    Bevor er die Wohnung verließ, machte er eine Runde durch die Zimmer und drehte überall die Heizungen herunter. Dann ging er noch einmal rasch ins Bad, um ein wenig Rasierwasser aufzutragen. Erst ganz zum Schluss schaltete er das Radio aus.
    Draußen zog er den Reißverschluss seiner Winterjacke noch ein Stück höher. Er nahm die Zeitung aus dem Briefkasten, steckte sie in den Rucksack und machte sich auf den Weg. An der S-Bahn -Station schaute er auf die Uhr. Er war früher dran als gewöhnlich, und das war der Grund, warum er die anderen Fahrgäste, die auf den nächsten Zug warteten, nicht kannte.
    Er hatte Glück, er fand eine leere Viererbank und setzte sich ans Fenster. Er begann in der Zeitung zu lesen, merkte aber bald, dass er sich nicht konzentrieren konnte. Seine Vorfreude auf den Abend mit Rosi war zu groß. Er lehnte den Kopf an die kalte Scheibe und schaute hinaus in die Dunkelheit. Die S-Bahn durchquerte Mühlheim, dann Offenbach. Auf den Straßen stauten sich die Autos. Scheinwerfer wurden aufgeblendet, manche Fahrer hupten; an den Ampeln standen frierende Fußgänger mit müden Gesichtern.
    Hinter dem Kaiserleikreisel fuhr die Bahn noch einmal durch offenes Gelände. Auf der rechten Seite lagen der Main und das Deutschherrnufer, auf der linken die Felder einer Großgärtnerei. Wie so oft an dieser Stelle verlangsamte der Zug seine Fahrt, bevor er das Frankfurter Stadtgebiet erreichte, und musste für eine Weile warten, bis die Strecke frei
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