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Die Braut des Nil

Die Braut des Nil

Titel: Die Braut des Nil
Autoren: Christian Jacq
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liebst sie. Du hast ein sicheres Gespür
für Proportionen, auch wenn sie noch lange nicht exakt sind. Aber du hast einen
schweren Fehler begangen.«
    »Die
Vergoldung…«, begann der junge Mann, bereit, sich zu dieser heiklen Technik zu
erklären.
    »Ich habe dir
nicht gestattet zu reden«, unterbrach ihn der Geometermeister. »Deine
Vergoldung ist von mittelmäßiger Qualität, und sie muss nochmal gemacht werden.
Dennoch hast du dich in dieser Kunst, in der du dich fast überhaupt nicht
auskanntest, gut geschlagen. Nein, darin liegt dein Fehler nicht.«
    Panik ergriff
Kamose. Was war das für ein Fehler? Er ging die einzelnen Stadien seiner Arbeit
durch, suchte und suchte, aber vergeblich.
    »Das Gesicht
der Sphinx«, offenbarte der Geometermeister.
    Der Lehrling
konnte seine Verwunderung nicht verbergen. Für ihn war das der gelungenste
Teil. Der Nasenrücken, die Feinheit des Gesichts, die edle Stirn… Nein, damit
konnte er nicht einverstanden sein.
    »Welches
Vorbild hast du dir genommen?«
    »Den Meister
der Lehrlinge, natürlich«, antwortete Kamose. »Es gab kein besseres.«
    »Bist du
niemals durch die Allee der Sphinxen vor dem Tempel gegangen? Hast du nicht
bemerkt, dass das einzige, alleinige Gesicht der Sphinx das Gesicht des
Meisters von uns allen ist, des Baumeisters Ägyptens, das Gesicht des Pharao?
Du vergisst die wichtigsten Dinge.«
    Das Urteil
war verkündet, es war unwiderruflich. Kamose hätte gerne protestiert, aber ihm
fiel kein Argument ein.
    Die beiden
Helfer führten ihn in den kleinen Raum zurück, wo er mit leerem Kopf lange
wartete. Er war von der Anspannung erschöpft und dachte an nichts.
    Erneut öffnete sich die Tür.
Der Geometermeister trat ein.
    »Die Beratung
ist beendet, Kamose. Du wirst deine Sphinx von neuem beginnen, diesmal, ohne
einen Fehler zu begehen. Aber dein Meisterstück wurde als solches angenommen.
Von nun an arbeitest du unter meinem Befehl.«

 
    5
     
     
     
    Die Ähren
waren herrlich gelb. Die Zeit der Ernte war gekommen. Überall auf den Feldern
arbeiteten die Bauern und schwangen geschickt ihre Sicheln.
    Die Arbeit
begann bei Morgengrauen und endete spät am Abend. In Vorfreude auf die
Festwoche, die alle Anstrengungen belohnen würde, ging den Bauern die Arbeit
leichten Herzens von der Hand.
    Auch die
Handwerker in den Werkstätten des Tempels von Karnak sehnten diese Ruhezeit
herbei, in der ihnen gestattet war, Bier zu trinken, so viel sie wollten, und
sich bis zur Erschöpfung zu vergnügen.
    Nur einer
unter ihnen machte ein trübes Gesicht: Kamose, der neue Schüler des
Geometermeisters. Seine Kameraden versuchten, ihn zu zerstreuen, und
versprachen ihm, ihn zum Trinken und Tanzen mitzunehmen.
    Aber da war
nichts zu machen. Kamose zog sich ganz in seine Arbeit zurück.
    Wie hätte der
junge Mann auch fröhlich sein können, wo doch die Menschen, die er liebte, sein
Vater und seine Mutter, unter den Misshandlungen eines niederträchtigen, als
Held bewunderten Kerls litten?
    Der
sehnlichst erwartete Tag rückte näher. Morgen würde das Opferritual der Braut
des Nil stattfinden und die schönste Garbe des schönsten Feldes geopfert
werden. Jedes Handwerk würde einen der Seinen abordnen, der es vertreten würde.
Und jeder hoffte, der Erwählte zu sein, den ersten Rang einzunehmen und die Hathor-Priesterinnen
bewundern zu können, die die Zeremonie leiteten.
    In den
Werkstätten wurde die Arbeit beiseite gelegt. Die Handwerker bereiteten ihre
Festkleidung vor. Kamose, der am liebsten allein war, saß in einem Palmenhain
südlich der Mauer von Karnak und hing seinen Gedanken nach. Nur das Osttor der
Mauer war noch zu sehen, es wurde von einer in den Türsturz gemeißelten Sonne
mit ausgebreiteten Flügeln gekrönt.
    Der junge
Mann hatte den bitteren Geschmack der Verzweiflung im Mund. Die Lehren des
Geometers begeisterten seinen Geist, erfreuten aber nicht sein Herz. Sein Herz
war im Dorf geblieben, bei seinen Eltern, den Opfern einer ungerechten
Gesellschaft.
    »Woran denkst
du, Kamose?«, fragte der Geometermeister, der plötzlich neben dem jungen Mann
stand, sich setzte und mit ihm die untergehende Sonne betrachtete.
    »Ich… Ich
schaue das göttliche Gestirn an. Es ist herrlich.«
    »Du bist kein
guter Lügner, Kamose. Deine Augen sind gar nicht fähig, den unermesslichen
Frieden zu schauen, der den Himmel erfüllt. Heute Morgen wurde die Sonne
geboren, heute Abend stirbt sie. Ein sichtbarer Tod, der die morgige
Wiederauferstehung vorbereitet. Ein
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