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Die Braut des Nil

Die Braut des Nil

Titel: Die Braut des Nil
Autoren: Christian Jacq
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Tod, der uns auf unseren eigenen Tod
vorbereitet. Um diese Gelassenheit zu ermessen, muss man gelebt haben. Und du
lebst nicht mehr. Du bist in einem Gefängnis gefangen, dessen Mauern du selbst
errichtet hast.«
    »Das stimmt
nicht«, protestierte der junge Mann. »Ich kämpfe gegen ein ungerechtes
Schicksal.«
    »Das
Schicksal ist weder gerecht, noch ungerecht. Es ist das Schicksal.«
    »Wie auch
immer, ich nehme es nicht hin.«
    Die Sonne
sank rasch zum Horizont. In unzähligen Rottönen ergoss sie sich über das
thebanische Gebirge, das bald wie eine über die Seele der Toten wachende
Pyramide aus der Dunkelheit hervortreten würde. Die Boote steuerten die Ufer
an. Die Herden kehrten von den Feldern zurück.
    »Du hast
Unrecht, und du hast Recht«, erklärte der Geometermeister. »Aber das Geheimnis,
das du in dir trägst, ist so schwer, dass es dich erstickt.«
    »Ich kann es
mit niemandem teilen.«
    »Hast du es nie jemandem
anvertraut?«
    »Doch… Einem
alten Priester. Er war Gehilfe am Eingangshof des Tempels. Er hat mir nicht
einmal zugehört.«
    »Du irrst
dich. Ich habe ihn gut gekannt. Er ist vor ein paar Monaten gestorben. Er war
ein gerechter, rechtschaffener Mann. Er konnte dich weder anhören noch den
Tempel betreten lassen, denn du warst nicht würdig.«
    »Würdig sein…
Immer führt Ihr nur dieses Wort im Munde! Heute aber herrschen Unwürdige!«
    Der Blick des
Geometermeisters wurde durchdringend.
    »Hast du präzise Vorkommnisse
bemerkt, die diese schwere Anschuldigung rechtfertigen würden? Wer sind die
angeblich herrschenden Unwürdigen unter uns?«
    »Ich spreche
nicht von unserer Zunft und vom Tempel… Wisst Ihr, dass es eine andere Welt
gibt? Eine Welt, in der unsere Werte nicht respektiert werden?«
    Der
Geometermeister lächelte.
    »Ich habe den
Auftrag, dich die geometrischen Formen des Lebens zu lehren, seine
unsterblichen Formen, Kamose. Aber hältst du mich für einen naiven Alten, der
nichts von der Welt weiß, in der die Menschen keine anderen Werte kennen als
Ehrgeiz, Eitelkeit und Habgier?«
    Kamose sah
seinen Meister mit einem ganz neuen Blick an. Die Farben der untergehenden
Sonne tauchten den Palmenhain in dunkles Grün, das sich mit dem Dunkelblau des
Himmels und dem Ocker der Erde mischte.
    Ein kühler
Nordwind legte sich beruhigend auf die Seele.
    »Ich war ein
Bauer wie du, bevor ich herkam und an die Pforte des Tempels klopfte«, fuhr der
Geometermeister fort. »Man nahm mich bei den Tischlern auf. Wegen Disziplinlosigkeit
wurde ich wieder weggeschickt. Ich fand meinen Meister dumm und beschränkt. Ich
hatte nicht ganz Unrecht…
    Aber ich war
selbst dumm und beschränkt. Ich habe verbissen weitergemacht. Die Steinmetze
waren besser für mich.«
    »Warum habt
Ihr Eure Familie verlassen?«
    »Weil unser
Nachbar nach einem Nilhochwasser die Grenzsteine unserer Felder umgesetzt
hatte. Er hatte unsere Felder zu seinen Gunsten verkleinert. Meine Eltern haben
sich beim Bürgermeister beschwert, aber kein Recht bekommen. Gegen diese Ungerechtigkeit
habe ich aufbegehrt. Höhnisch lachend hat mir der Nachbar geraten, im Tempel
Klage zu erheben. Ich habe ihn beim Wort genommen – vor inzwischen über fünfzig
Jahren. Und ich bin hier geblieben.«
    »Was ist aus
Euren Eltern geworden?«
    »Sie haben meinen
Entschluss respektiert; fünf Jahre nachdem ich das Dorf verlassen hatte, bin
ich als vom Tempel entsandter Geometer zurückgekommen. Ich selbst habe die
Grenzsteine wieder an die richtige Stelle gesetzt. Mein Vater hätte sich
gewünscht, dass ich den verfluchten Nachbarn in seinen Rechten einschränke. Das
habe ich verweigert.«
    »Er hätte es
wahrlich verdient!«
    »Das ist
möglich, Kamose. Aber dieses Gesetz war nicht das des Tempels. Mein Vater hat
mir meinen Starrsinn vorgeworfen. Durch mein Verhalten kam er um seine Rache.«
    »Ist es denn eine so
unwürdige Empfindung, wenn ein Sohn seinen Eltern Gerechtigkeit widerfahren
lassen will?«
    Ein Falke
erhob sich in der Abendluft, stieg zur untergehenden Sonne empor und verschwand
im rötlichen Feuer des Abends. Die Nacht brach herein und breitete ihre stillen
Schwingen aus.
    »Das ist
immer eine unwürdige Empfindung«, erklärte der Geometermeister. »Sie befällt
das Herz, engt es ein und hindert es daran, das Gewissen anzusprechen. Es ist
nicht an dir, dich zu rächen oder Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.«
    »An wem also?«
    »Vergisst du
etwa, dass wir den Tempel und unsere Kunst dem Pharao verdanken, dem Mann,
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