Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Blüte des Eukalyptus

Die Blüte des Eukalyptus

Titel: Die Blüte des Eukalyptus
Autoren: Johanna Nicholls
Vom Netzwerk:
entehrt, genauso wie die Hure Stella deinen Vater.«
    Keziahs Wangen flammten auf, als hätte Patronella sie geschlagen. Die Männer erstarrten bei dem Wort »entehrt«. Sanftere Gemüter in der Menge zuckten mitfühlend mit den Schultern bei der grausamen Erinnerung daran, dass Keziah keine echte Roma war.
    Jetzt wandte sich die junge Frau an die Menge. »Ich werde nichts auf ihre Beleidigungen erwidern. Sie ist Gems Mutter. Aber ihr alle wisst, wie klar ich die Zukunft sehen kann. Ich werde bis ans Ende der Welt fahren. Ich werde Gem finden und in seinen Armen liegen!« Sie drehte sich zu Patronella um. »Du hingegen wirst deinen Sohn nie wiedersehen.«
    Als Patronella mit dem Finger auf Keziah zeigte, hielt die Menge geschlossen den Atem an.
    »Wenn du deine Sippe verlässt, werde ich dich und deinen Körper mit meinen Flüchen durchbohren. Du wirst das Kind deines Herzens begraben. Gem wird dich bespucken, und noch bevor der Sommer zu Ende geht und die Mondfinsternis dein Sternzeichen berührt, wirst du deinen Körper für Geld verkaufen wie eine Hure.«
    Die Menge wich entsetzt zurück. Keziah stolperte davon und spürte kaum die Steine, die Patronella hinter ihr herwarf. Der körperliche Schmerz war nichts, verglichen mit der jähen Wut, die sie erfasste, als Patronellas letzter vernichtender Fluch in ihren Ohren widerhallte. » Soll der Teufel in deine Eingeweide fahren! «

    Keziah ging die einsame, von den Rädern der Bauernwagen zerfurchte Landstraße entlang. Ihre Augen konnten sich nicht sattsehen an der leuchtend grünen Schönheit ringsum, den wild wuchernden Blumen und Kräutern, den Schwärmen von Vögeln, die vor den weichen Wolken am Himmel hin und her schossen. Wie immer vertraute sie darauf, dass die Kraft der Natur die Wunden der menschlichen Grausamkeit heilte.

    Sie würde mit dem Geld, das sie mit ihren eigenen Händen und ihrem Verstand auf ehrliche Weise verdient hatte, den Ozean überqueren, und das erfüllte sie mit Stolz. Sie würde sich von Patronellas Flüchen nicht einschüchtern lassen.
    Seit sie sechs war, wusste Keziah um die besondere Gabe, die sie besaß. In ihren Augen bemaßen sich Tag und Nacht nicht nach dem Fortschreiten der Uhr; die Zeit strömte dahin wie ein Fluss, ein unablässig rauschender Strom, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenflossen. Sie konnte sich nach Belieben von diesen Wassern tragen lassen, doch manchmal bewegte sie sich auch in Träumen und Visionen. Jetzt suchte sie Trost in einem lebendigen Bild aus ihrer Vergangenheit – Gems geliebtem Gesicht an jenem Herbsttag im Jahr 1831, als er vierzehn geworden war.
    Gems goldener Ohrring funkelte in der Sonne, als er sie hinter sich auf den ungesattelten Rücken seines gescheckten Pferdes schwang. Seine Stimme war wie eine zärtliche Berührung.
    »Was meinst du, kleine Keziah? Ich will dein Rom sein, wenn du mich haben willst.«
    »Oja, Gem, bitte«, flüsterte sie.
    Jetzt, da er ihrer sicher sein konnte, wickelte er eine ihrer Haarsträhnen um seine Faust und zog ihr Gesicht bis auf wenige Zentimeter an seinen Mund heran. »Ich habe deinen Schatten geliebt, seit ich dich das erste Mal gesehen habe.«
    »Aber da war ich doch erst fünf!«
    Er erzählte ihr, dass er lange genug gewartet hatte, und neckte sie dann, indem er ihrem leicht geöffneten Mund auswich.
    »Jetzt bist du elf – fast eine Frau. Es wird Zeit, dass wir uns einander versprechen.«
    Am gleichen Abend, als Keziah mit ihrer Großmutter in ihrem vardo lag, hörten sie, wie Gem seine Mutter anschrie, weil sie eine verächtliche Bemerkung über Keziahs gaujo -Mutter hatte fallenlassen.
    »Ihr Frauen redet ständig von der Vergangenheit! Ich aber bin ein Mann! Ich nehme nicht die Vergangenheit mit in mein Bett! Du wirst
Keziahs Familie einen guten Brautpreis anbieten, so wie ihre Ehre es verlangt.«
    Als Patronella daraufhin in großes Jammern ausbrach und erklärte, eher sterben zu wollen, blieb Gem ungerührt.
    »Dann stirbst du eben ohne Enkel! Ich schwöre beim Grab meines Großvaters, wenn Keziah Stanley mich nicht zum Rom bekommt, werde ich bis an mein Lebensende meine Hemden selbst waschen.«
    Als Gem mit lebenslanger Ehelosigkeit und Askese drohte, stockte Keziah der Atem.
    Doch so viel Patronella auch jammerte, letztlich kapitulierte sie. Keziah fiel ihrer Puri Dai um den Hals und bedeckte ihr runzliges Gesicht mit einem Schwall von Küssen.
    »So sehr wünschst du ihn dir?« Ihre Großmutter gluckste in sich hinein. »Hör
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher