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Die Blüte des Eukalyptus

Die Blüte des Eukalyptus

Titel: Die Blüte des Eukalyptus
Autoren: Johanna Nicholls
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und Hungerleider zu sein, doch zumindest verdiente er sich damit sein tägliches Brot und musste nicht im Armenhaus vorsprechen.
    Daniel wurde von einer Schar stämmiger Jungs abgelenkt, die auf dem Weg zur Schule an der Trockenmauer entlangrannten und den vertrauten Singsang anstimmten, der unweigerlich mit spöttischem Gelächter endete: »Daniel Browne ist ein Clown! Aus der Schule abgehaun!«

    Daniel schluckte die Demütigung herunter, denn er wusste, dass aus ihr nur die Verachtung der Eltern sprach. Er hasste sie alle. Dann betrachtete er seine Hände. Sie waren rau und aufgerissen, trotzdem war er stolz auf seine langen schmalen Finger, die er für einen natürlichen Hinweis darauf hielt, dass er zu etwas Besserem bestimmt war. Die Hände eines Künstlers.
    Wer zuletzt lacht, lacht am besten. Eines Tages werden diese dämlichen Dorftrottel Schlange stehen und dafür bezahlen müssen, Daniel Brownes Werk zu sehen. Und dann, wenn ich erst mal berühmt bin, werden sie als Erste Anspruch auf mich erheben – diese Schweinehunde.
    Er warf einen Blick auf den Kirchhof, wo seine Mutter in einem nicht gekennzeichneten Armengrab lag. Nur der Vikar erinnerte sich an Mary Ann Browne – sonst interessierte sie niemanden.
    Daniel näherte sich dem Pfarrhaus und warf einen Blick durchs offene Fenster ins Arbeitszimmer des Vikars. Auf dem Schreibtisch direkt unter dem Fenster lag ein Stapel Papier unter einem Briefbeschwerer in Gestalt eines wilden Löwen. Unberührtes Papier übte schon lange eine magnetische Anziehungskraft auf Daniel aus. Jetzt brach ihm der Schweiß aus angesichts der Verlockung, die es darstellte. Im Geiste bedeckte er die einzelnen Blätter mit Bildern, die alle darum kämpften, endlich aus seiner Phantasie erlöst zu werden. Würde der Vikar bei seiner Rückkehr überhaupt merken, wenn ein paar Blätter fehlten? Daniel redete sich ein, dass er schon meilenweit weg wäre, bevor der Diebstahl entdeckt würde.
    Er streckte eine zitternde Hand nach dem verlockenden Stapel aus, wurde jedoch von der buckligen Gestalt des Vikars gestört, der unerwartet um die Ecke bog.
    Als der alte Mann ihm winkte, rannte Daniel hin, in der Erwartung, neue Anweisungen zu erhalten. Umso erstaunter war er, als der Vikar ihn in sein Arbeitszimmer schob und ihm mit einer Handbewegung bedeutete, auf dem gepolsterten Stuhl gegenüber dem Schreibtisch Platz zu nehmen. Daniel blickte sich um, auf der Suche nach dem wunderbaren Kunstbuch mit den Farbtafeln
von Gemälden der alten Meister, das der Vikar ihm einmal ausgeliehen hatte. Daniel hatte ihre Werke so aufmerksam studiert, dass sich ihm jedes Detail eingeprägt hatte.
    An der Wand hing ein Druck: Moses, der die fliehenden Israeliten zwischen den gewaltigen Wellen hindurchführt, die Gott für sie stillstehen ließ. Der Vikar hatte ihm gesagt, es sei das Rote Meer. Das erschien ihm als gutes Omen für seine eigene Flucht.
    Als die Frau des Vikars ihnen eine Kanne Tee brachte und dazu einen Teller voll mit Erdbeermarmelade bestrichenen Brötchen und Kümmelkuchen, verbarg Daniel seine Reaktion. Jetzt, da er fortging, behandelte ihn der Vikar wie einen Gast.
    Daniel trank den Tee in kleinen Schlucken und ahmte jede Bewegung des Vikars nach, während er sich an der ungewohnten Kuchengabel versuchte. Ungeduldig wartete er auf das heiß ersehnte Stück Papier, das seine Hoffnung auf Freiheit besiegeln würde. Der Vikar war der einzige gebildete Mensch, den er kannte. Er sollte Daniel die Referenzen ausstellen, die er seinen künftigen Arbeitgebern vorlegen konnte.
    »Hatten Sie Zeit, mir ein Zeugnis zu schreiben, Vikar?«
    Der alte Mann nickte und nahm einen Umschlag vom Schreibtisch.
    »Du bist ein guter und zuverlässiger Arbeiter, Daniel. Das wird dir eine faire Chance auf Arbeit in Chester verschaffen, aber es kann trotzdem schwer für einen Jungen vom Land sein, der sich mit dem Leben in der Stadt nicht auskennt.«
    »Ich danke Ihnen, dass Sie mir Grundkenntnisse im Lesen und Schreiben beigebracht haben. Das ist mehr, als die meisten Arbeiter je erwarten dürfen.«
    Als Daniel die Hand nach dem Umschlag ausstreckte, legte der Vikar unerwartet drei Münzen dazu, die ihn für ein paar Tage über Wasser halten würden, bis er neue Arbeit gefunden hätte. Diese Geste löste einen Schwall von Schuldgefühlen in Daniel aus, als er sich an seinen versuchten Diebstahl erinnerte. Sie wurden durch die Worte des Vikars noch verstärkt.

    »Wir werden uns in diesem Leben vielleicht
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