Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Blüte des Eukalyptus

Die Blüte des Eukalyptus

Titel: Die Blüte des Eukalyptus
Autoren: Johanna Nicholls
Vom Netzwerk:
nicht wiedersehen, Daniel, deshalb erscheint es mir angebracht, dir etwas zu geben, das eine Verbindung zu deiner Vergangenheit darstellt.« Er öffnete einen Mahagonischrank und nahm vorsichtig ein zusammengerolltes Stück Papier heraus, das er auf seinem Schreibtisch ausbreitete.
    Daniel berührte das Papier ehrfürchtig. Die Ecken waren ein wenig vergilbt. Die Schwarz-Weiß-Zeichnung zeigte ein hübsches Mädchen mit langen Locken, das in einem schlichten Nachthemd auf einem Bett lag, das Gesicht in einem leichten Winkel dem Betrachter zugewandt. Die Hände waren über der Brust gefaltet wie bei einem Kind, das mitten im Gebet eingeschlafen war.
    »Wunderschön«, sagte Daniel ehrfürchtig. »Ist das …«
    Der Vikar zögerte. »Mary Ann Browne. Fünfzehn Jahre alt. Deine Mutter.«
    Jetzt erst bemerkte Daniel die Initialen und das Datum in der rechten unteren Ecke. »3. Mai 1817, zwei Tage nach meiner Geburt. Sie haben mir erzählt, meine Mutter sei während der Geburt gestorben.«
    »Aye, so war es auch, mein Junge. Diese Zeichnung stammt von einem jungen Künstler, der sie im Armenhaus besuchen wollte. Er kam zwei Tage zu spät.«
    Daniel konnte sein Grauen nicht verhehlen. »Sie meinen, er hat sie gezeichnet, als sie schon tot war?«
    Der Vikar rutschte auf seinem Stuhl hin und her. »Du warst eine Frühgeburt. Deine Mutter war von Hunger geschwächt, als sie hier ankam. Sie starb wenige Stunden nach deiner Geburt.«
    Daniels Hand zitterte, als er den Finger auf die Initialen TLH stieß. »Wissen Sie, wer das war?«
    »Ich bin kein Experte auf dem Gebiet der Kunst, aber ich weiß, dass ein junger Künstler aus dieser Gegend namens Thomas Linton Hayes nach Süden ging, in die Hauptstadt, und dass seine Bilder in verschiedenen Galerien hängen.« Er warf Daniel einen
scharfen Blick zu. »Es gibt keinerlei Beweis dafür, dass er dein Vater ist. Vielleicht war Mary Ann Browne nicht mehr für ihn als eins von vielen Modellen.«
    Daniel schob seine zornigen Gedanken beiseite. Nicht mein Vater? Warum habe ich dann das Gefühl, unbedingt Maler werden zu müssen? Stattdessen lauschte er aufmerksam der Beschreibung, die der Vikar von dem Künstler gab.
    »Ziemlich begabt, aber er machte den Eindruck, ein ausschweifendes Leben zu führen.« Der Vikar griff nach einem unsichtbaren Glas und hob es mit einer raschen Bewegung an den Mund.
    Daniels Frage, ob der Künstler das neugeborene Kind hatte sehen wollen, schien dem Vikar peinlich zu sein. Offenbar hatte niemand erwartet, dass der Säugling überlebte, daher hatte der Mann Geld für eine christliche Bestattung hinterlassen.
    »Wie anständig von ihm.« Daniel gelang es nicht, seine Bitterkeit zu verbergen. »Aber ich brauche seinen Namen nicht. Ich werde den meiner Mutter so berühmt machen, dass Thomas Linton Hayes es noch bereuen wird, meine Existenz nicht anerkannt zu haben.«
    »Richte und werde gerichtet, Daniel«, warnte der Vikar.
    »Erzählen Sie mir alles, was Sie über meine Mutter wissen, Sir, ich bitte Sie. Nur Sie erinnern sich an sie.«
    »Keine gewöhnliche Farmerstochter. Außergewöhnliche grüne Augen. Ihr Haar umgab sie wie ein Umhang – Maria Magdalena. « Er senkte diskret die Stimme. »Sie hatte diese milchweiße Haut, die bei jungen Künstlern so beliebt ist. Hayes erzählte, dass sie für sein Triptychon von Figuren aus dem griechischen Mythos posiert habe. Und dass Mary Ann seine perfekte Clytië gewesen sei.«
    Der Vikar erklärte ihm die alte griechische Sage von der Sterblichen, die so in den heidnischen Gott Apoll verliebt gewesen war, dass sie jeden Tag seinem Sonnenwagen am Himmel nachsah. Als sie an ihrer unerwiderten Liebe starb, bedauerten die Götter sie
und verwandelten sie in eine Sonnenwende, eine Pflanze, die mit ihrer Blüte dem Lauf der Sonne folgt.
    Daniel rollte das Papier sorgfältig wieder zusammen. »Danke für diesen wertvollen Hinweis.«
    Der Vikar ließ Daniel niederknien, gab ihm seinen letzten Segen und überreichte ihm eine Bibel.
    »Möge sie dir immer den rechten Weg weisen, mein Junge. Geh mit Gott, und Friede sei mit dir.«
    In der Scheune sammelte Daniel hastig seine wenigen Habseligkeiten ein. Dann zog er sich die Stoffmütze über die Ohren, trat in die Sonne hinaus und schwang sein Bündel, als er an dem Meilenstein vorbeikam, der anzeigte, wie weit es bis nach Chester war – und zu seinem neuen Leben.

    Als Daniel in Chester an den Rows vorbeischlenderte, kamen sie ihm vor wie eine Explosion von Farben,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher