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Die blaue Liste

Die blaue Liste

Titel: Die blaue Liste
Autoren: Wolfgang Schorlau
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Ostteil Deutschlands neue Wettbewerber herangezüchtet. Keiner
     sagte dem Präsidenten ins Gesicht, dass man gegen seine Linie opponierte, aber Rohwedder spürte genau, wie sein Einfluss schwand.
    Vor einigen Wochen hatte die Leipziger Bevölkerung die Montagsdemonstrationen wieder aufgenommen, mit denen sie vor zwei Jahren
     Erich Honecker vertrieben hatte. Nun verlangten die Menschen die schnelle Angleichung ihrer Lebensbedingungen an die der westlichen
     Bundesländer. Diese Aktionen lösten im Bonner Bundeskanzleramt eine Welle aufgeregter Aktivitäten aus. Fast täglich riefen
     hohe Ministerialbeamte aus Bonn an und forderten ihn auf, etwas gegen diese Demonstrationen zu unternehmen. Diese Leute, so
     sagte einer von ihnen, haben schon einmal eine Regierung gestürzt; sie werden vor uns nicht Halt machen.
    Nachdenklich betrachtete der Präsident die Blaue Liste auf seinem Schreibtisch. Wenn er den Vorschlägen des Dokumentes folgen
     wollte, müsste er jetzt handeln. Noch konnte er sich im Verwaltungsrat durchsetzen. Sein Deutschlehrer hatte oft Shakespeare
     zitiert: »Der bessere Teil der Tapferkeit ist die Vorsicht.« – Er würde geschickt vorgehen müssen. Für eine flächendeckende
     Umsetzung des Konzeptes fände erkeine Mehrheit im Verwaltungsrat. Alle Vorgespräche, die er mit Wirtschaftsvertretern und Beamten aus dem Kanzleramt führte,
     hatten ihm signalisiert, dem Konzept der Blauen Liste würde entschiedener Widerstand entgegensetzt, selbst wenn dies der einzige
     Weg war, die Betriebe des Ostens zu erhalten. Er wollte dem Gremium einen Testlauf vorschlagen: Mit nur wenigen, vielleicht
     mit den dreißig Betrieben, die in der Blauen Liste vorgeschlagen wurden, würde die Treuhand ein Experiment starten. Wenn es
     gelänge – daran zweifelte er nicht -, würde er den Versuch ausdehnen können.
    Nun atmete er freier. So könnte es funktionieren. Mit der Rechten nahm er die Liste und las den Text erneut aufmerksam. Als
     er das letzte Blatt zur Seite legte, war er sicher, er konnte Tausende von Beschäftigten vor Arbeitslosigkeit und Abwanderung
     bewahren.
    Doch er musste sich beeilen. Jetzt gleich wollte er die Beschlussvorlage für die Sitzung diktieren. Während er in Gedanken
     die ersten Sätze formulierte, sah er sich nach seinem Diktiergerät um und entdeckte es auf dem metallenen Regal hinter sich.
    Er stand auf, lächelnd und zuversichtlich; mit der Blauen Liste in der Hand trat er zu dem Bücherbord und wandte dem Fenster
     seines Arbeitszimmers den Rücken zu.
    Die Attentäter warteten bereits seit vielen Stunden in einem umzäunten Schrebergarten kaum hundert Meter von Rohwedders Haus
     entfernt. Die beiden Männer waren am Nachmittag erschienen und hatten den Eindruck erweckt, als ob sie zu einem gemütlichen
     Samstag in die Kleingartenanlage schlenderten, ausgerüstet mit einigen Dosen Bier in den beiden Kühltaschen und in Erwartung
     einer Radioübertragung des Spiels von Borussia Dortmund.
    In den Taschen trugen sie jedoch kein Bier, sondern ein NATO-Präzisionsgewehr und, in ein Handtuch eingeschlagen, das Zielfernrohr.
    Der Jüngere der beiden, der aussah, als habe er die dreißignoch nicht überschritten, legte das Bekennerschreiben, das er in eine Klarsichthülle gesteckt hatte, um es vor möglichem Frühjahrsregen
     zu schützen, neben den Campingstuhl, den er von der kleinen Terrasse des Gartenhäuschens geholt und wortlos aufgestellt hatte.
    Der ältere, wesentlich sportlicher wirkende Mann hatte die Kühlboxen geöffnet und das Gewehr zusammengesetzt. Er sprach nur
     wenig. Er überwachte die Platzierung des Schreibens, ohne dass er es las, was den jüngeren irritierte, denn er hatte viele
     Stunden grübelnd über einem Schreibheft gehockt, bevor er mit dem Text zufrieden gewesen war. Jetzt befahl ihm der Ältere,
     das Fernglas zu nehmen und ihm seine Beobachtungen zuzuflüstern, während er selbst unbeweglich auf seinem Campingstuhl kauerte.
    Erst als das Licht im Arbeitszimmer aufflammte, geriet der Fahlgelbe in Bewegung. Er stellte sich auf die Sitzfläche des Hockers
     und sah durch das Zielfernrohr hinüber zum Haus. Das körnige Licht des Zielfernrohrs schuf eine seltsame Intimität zwischen
     dem Präsidenten und seinem Attentäter. Er konnte die gestreifte Struktur von Rohwedders Hemd erkennen, sah, wie sich die Falten
     seiner Stirn beim Lesen eines Schriftstücks zusammenzogen und wieder entspannten.
    Als der Mann am anderen Ende der Schussbahn aufstand, um
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