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Die blaue Liste

Die blaue Liste

Titel: Die blaue Liste
Autoren: Wolfgang Schorlau
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zum Bücherregal zu gehen, zielte sein Mörder auf jene Stelle im Rücken,
     auf die zu zielen man ihn gelehrt hatte. Das Geschoss zerriss Luft- und Speiseröhre des Präsidenten, zerfetzte seine Aorta
     und das Rückgrat. Er war tot, noch bevor sein Körper auf dem Boden des Arbeitszimmers aufschlug.
    Der Mann blieb auf dem Campingstuhl stehen. Durch das Präzisionsobjektiv sah er die Frau des Präsidenten ins Zimmer stürmen
     und verletzte sie mit einem zweiten Schuss am Arm. Als sie aus dem Zimmer floh, hob er die Waffe noch einmal an, zielte und
     setzte einen dritten Schuss in das Bücherregal. Dann erst stieg er herunter. Der Jüngeresammelte die drei Patronenhülsen auf und deponierte sie säuberlich nebeneinander geordnet auf der Sitzfläche des Campinghockers.
     Nun verließen sie auf vorher geplantem Weg den Tatort.

[ Menü ]
    1
    Das erste Licht verwandelte den Tisch, der unter dem Fenster stand, allmählich aus einem Schatten in ein Möbelstück zurück.
     Georg Dengler lag bereits eine Stunde wach.
    Die Zeit der Morgendämmerung gefiel ihm. Er fand es fair, dass der Tag der zurückweichenden Nacht gestattete, das Gesicht
     zu wahren, und nur behutsam das Regime über die Gegenstände des Raumes übernahm. Die zwei überlangen Schatten an der Wand
     schrumpften zu den beiden Flaschen Merlot, die er gestern Abend getrunken hatte, und die dunklen Inseln auf dem Fußboden entpuppten
     sich innerhalb weniger Minuten als die achtlos hingeworfenen Kleidungsstücke, derer er sich gestern Abend hastig entledigt
     hatte.
    Kaum fanden die Dinge im Zimmer ihre ursprünglichen Konturen wieder, rollte er sich noch einmal auf die Seite. Das Federbett
     wärmte ihn, und Dengler schloss mit dem Fuß eine Lücke zwischen Decke und Leintuch, durch die für einen Augenblick irritierend
     kalte Luft eingedrungen war.
    In diesen frühen Stunden vermisste er die Nähe eines weiblichen Körpers. Er sehnte sich danach, sich an den Rücken einer schlafenden
     Frau zu schmiegen, und stellte sich vor, wie er seine Hand um ihre Taille legen, ihre Haut spüren und ihrem Atem lauschen
     würde. Er blätterte in seiner Erinnerung wie in einer erotischen Kartei, fand aber kein Vorbild für die Frau, die er sich
     in diesem Augenblick wünschte.
    Ich will mich verlieben – dieser Gedanke gefiel ihm nicht. Gestern Abend war er noch spät in die Weinstube Fröhlich gegangen, um seine neue Freiheit mit einem Glas Grauburgunder zu feiern. Doch berührte ihn das Lächeln der jungen Frau, die
     ihm das Glas an den Tisch brachte, so unerwartet, dass er für einen Augenblick glaubte, es habe ihm selbst gegolten und sei
     nicht eine professionelle Mimik für den späten Gast. Unauffällig und ein wenig eifersüchtig hatte erbeobachtet, ob sie den drei Studenten am Nachbartisch ein ähnlich offenes Lächeln schenken würde. Als sie es nicht tat, leerte
     er sein Glas in zwei Schlucken und zahlte bei ihrem Kollegen an der Theke.
    Inzwischen lärmte auf der Straße die Müllabfuhr.
    Georg Dengler wartete einen Augenblick, ob der fast schon vertraute, schmerzende Stich im Kreuz einsetzen würde. Doch heute
     schmerzte sein Rücken nicht, und so warf er schnell die Decke zurück. In zwei Schritten stand er vor dem CD-Spieler, drückte
     die Play-Taste, reckte sich und registrierte ungeduldig das kurze Grummeln, mit dem die Maschine sich in Gang setzte. Dann
     endlich sang Junior Wells einen Willie-Dixon-Blues. Seine raue Stimme füllte Denglers kleines Zimmer, und die Pianosoli von
     Otis Spann plätscherten durch den Raum.
    I don't want you
    To be no slave
    I don't want you
    To work all day
    I don't want you
    'Cause I'm kind of sad and blue
    I just want to make love to you
    Dengler drehte den Ton lauter und begann mit den allmorgendlichen Liegestützen. Aus den Augenwinkeln sah er jedes Mal, wenn
     er sich vom Boden abstemmte, die Marienstatue an der Wand. Bald ist die Farbe völlig abgesprungen, dachte er, und tatsächlich
     war von dem ehemals blauen Umhang nur noch an wenigen Stellen die Farbe zu sehen. Dunkles Holz trat hervor, und der Heiligenschein
     war vollständig abgegriffen.
    Nach dem dreißigsten Liegestütz schwitzte er. Und als er sich nach der sechzigsten Übung erhob, beobachtete ihn die Madonna
     immer noch. Junior Well's Mundharmonika liefertesich ein Duell mit Buddy Guys Gitarre. Er drehte die Musik noch lauter und ging ins Bad.
    Nach dem Duschen zog er sich an und benötigte wie üblich zwanzig Minuten dafür. Die einfarbigen,
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