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Die Betäubung: Roman (German Edition)

Die Betäubung: Roman (German Edition)

Titel: Die Betäubung: Roman (German Edition)
Autoren: Anna Enquist
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Angstschweiß im Sprechzimmer. Da besteht ein Konflikt. Woher rührt diese Angst? Und das Bedürfnis, ihr zu trotzen? Der Junge könnte doch auch Dermatologe werden, praktischer Arzt, Geriater. Er entscheidet sich für das, was ihm am meisten Angst macht. Wie ist das mit seiner persönlichen Geschichte verknüpft? Drik weiß es nicht, und das ärgert ihn. Kaffeesatzlesen ist das hier, denkt er, Wünschelrutenlaufen, Herumbastelei mit Fakten, die du gefunden zu haben glaubst.
    Also, was weiß ich? Er wuchs ohne Vater auf, der Vater ist abgehauen, als der Junge fünf war. Zunächst kein Kontakt, dann sporadisch und mit Unbehagen, seit dem zwölften Lebensjahr gar nicht mehr, denn da war der Vater tot. Krankheit, Herzversagen? Noch nachfragen. Er wird einen Vater in mir suchen, denkt Drik, vielleicht ist er deshalb so auf der Hut und signalisiert mir, dass es Dinge gibt, die er zwar leidenschaftlich gern möchte, die ihm aber auch Angst einjagen. Er fürchtet wahrscheinlich, dass ich tot umfalle, wenn er mich verärgert.
    Die Mutter war bestimmt zu nah, zu sehr von ihrem Sohn abhängig. Kann fast nicht anders sein. Es klang nett, wie er über sie sprach, er scheint sie wirklich gern zu haben. Warum die Scheidung? Warum keine weiteren Kinder? Hat sie einen neuen Partner? Wie steht er dazu?
    Ich brauche nicht gleich alles zu wissen, aber es wäre schon gut, wenn ich eine ungefähre Vorstellung hätte, was der Junge sucht, mir sicher sein könnte, dass er kooperiert. Will er sich überhaupt mit mir zusammen anschauen, was los ist? Das ist nicht eindeutig. Irgendetwas stimmt da nicht ganz. Wahrscheinlich liegt es an mir, denkt Drik, als er die Angaben zu dem jungen Mann zu Papier bringt. Mit Lesebrille. Ich messe dieser einen Konsultation zu viel Bedeutung bei, muss mir selbst beweisen, dass ich es noch kann. Damit hat der Junge nichts zu tun, ihm steht eine gute Lehrtherapie zu, die vom Unglück im Leben seines Therapeuten möglichst unbeeinträchtigt bleiben sollte. Ich denke zu schwerfällig, ich habe keinen Überblick. Diese Therapie zerrt mich in eine Zukunft, die ich nicht angehen will. Sollte ich mich womöglich selbst eine Zeitlang in Behandlung begeben? Aber bei wem? Ich kenne sie alle, und zu den meisten habe ich kein Vertrauen. Nein, ich werde mir selbst Beine machen, werde das Institut anrufen, dass meine Praxis wieder offen ist für Überweisungen. Arbeit ist gut. Auch wenn es mir selbst nicht gutgeht, sind meine Leistungen gut genug.
    Bohrende Unsicherheit und Widerwillen befallen ihn. Ich muss raus, denkt er, an die frische Luft, weg hier.
    Laufen stimuliert das assoziative Denken. Drik spaziert am Fluss entlang, auf einem Weg, der für den Fahrzeugverkehr gesperrt ist. Auch Radfahrer sind an diesem grauen Montag kaum unterwegs. Wasservögel suchen das Ufer nach Futter ab, was sollen sie machen, wie wappnen sie sich gegen den Winter?
    Er starrt über das Wasser. Es ist windstill und eigentlich nicht wirklich kalt. In der Ferne sieht er das Krankenhaus. Suzan geht dort jetzt ihrem Betäubungswerk nach, diese Mauern grenzen eine Welt ab, in der die Menschen nichts von dem mitbekommen, was sich außerhalb abspielt. Die Drehtür zur Empfangshalle verschluckt jeden, jeder Besucher verabschiedet sich vom Tageslicht. Außer durch den Haupteingang kommt man nur durch versteckte Ventile in das Krankenhaus hinein, die Notaufnahme zum Beispiel, das Wichtigste von allen. Die weiteren sind: Lieferanteneingang, Hubschrauberlandeplatz, Leichenhalle. Suzan erzählte, dass die neuen Operationssäle Fenster haben, so dass man während der Arbeit auf die Himmelslandschaft hinausschauen kann. Merkwürdig.
    Keine Bebauung mehr, nur sumpfiges Weideland ohne Vieh. Bedauernswert, dieser Junge ohne Vater. Ein fünfjähriges Kind denkt, dass es seine Schuld ist, wenn der Vater das Weite sucht. Dass es nicht lieb genug war. Oder zu erfolgreich im Wettstreit um die Mutter, auch möglich. Das ödipale Drama – er hat das schon immer gehasst. Überbewertet, findet er. Die Schicksalsschläge in den ersten drei Lebensjahren sind um ein Vielfaches relevanter.
    Ein Bild von seinem eigenen Vater kommt ihm in den Sinn. Verwirrter alter Mann in stinkendem Aufenthaltsraum von Altenpflegeheim. Er müsste mal wieder zu ihm, bringt es aber in den letzten Monaten nicht fertig. Suzan geht regelmäßig, obwohl sie viel mehr um die Ohren hat als er. Sie ist tatendurstig, unternimmt gerne was. Sie schaut mit dem Pflegepersonal die väterliche
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