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Die Betäubung: Roman (German Edition)

Die Betäubung: Roman (German Edition)

Titel: Die Betäubung: Roman (German Edition)
Autoren: Anna Enquist
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Analytikerkollegen aus ihrer Praxis erzählten. Manche hatten ja auch ehemalige Klienten von ihm in Behandlung, so dass er deren Leben ein bisschen weiterverfolgen konnte. Doch je schlechter es Hanna ging, desto weniger Anteil konnte er nehmen. Er saß noch dabei, weil Worte gesprochen wurden, die nicht Hanna betrafen, weil er unter Freunden, aus dem Haus sein wollte. Aber gerade weil es nicht um Hanna ging, schienen die Freundschaftsbande immer dünner zu werden. Er fühlte sich mehr und mehr allein. Gegen Ende war er nicht mehr hingegangen.
    »Hast du eine Überweisung?«, hat er Peter gefragt. Peter arbeitet im Psychiatrischen Krankenhaus und ist dort für die fachärztliche Weiterbildung zuständig. Dazu gehört auch, dass er die Lehrtherapie koordiniert, die alle angehenden Psychiater im Laufe der Weiterbildung machen müssen. Gerade hatte ein junger Mann bei ihm vorgesprochen, der schon ernsthaft an eine Therapie dachte, obwohl er gerade erst angefangen hatte – die meisten schoben das bis zum dritten oder vierten Jahr der Weiterbildung hinaus, wenn sie selbst bereits längere Behandlungen übernehmen mussten. Dieser junge Mann wollte jetzt schon. Peter dachte dabei an Drik.
    »Sag ihm, er soll anrufen. Wie heißt er?«
    Wenn einer so schnell anfangen will, steckt etwas dahinter, überlegte Drik. Er dürfte irgendwas auf dem Herzen haben, Hilfe benötigen. Da kann ich gleich richtig anfangen und brauche nicht wochenlang herumzustochern, bis das verdrängte Elend zutage kommt.
    Er streckt die Beine aus. Zwei gleiche Socken, das ist schön. Ungeputzte Schuhe, das schon weniger. Der Holzfußboden im Flur glänzt. Die Garderobe ist bis auf einen Regenschirm leer. Durch die offen stehenden Türen des Sprechzimmers strömt Licht. Alles bereit, denkt er. Jetzt noch ich. Bekanntschaft schließen, Anhaltspunkte dafür finden, was er will und was er erwartet, Konditionen vereinbaren, eine feste Zeit – obwohl, ich bin jetzt so flexibel wie nur was –, den Tarif, die monatliche Abrechnung, die vermutliche Dauer des Ganzen, fünfzig Sitzungen werden ihm im Rahmen seiner Ausbildung vergütet, alles darüber hinaus muss er selbst zahlen, gut, das schon mal zu sagen, Zeitdruck kann ich nicht brauchen – ob Suzan heute Abend kocht oder Peter? Nachher, nach diesem Patienten, eine Runde Fahrrad fahren oder laufen, das hebt die Laune. Nur nicht, wenn man dabei ins Grübeln gerät. Er sieht das bleiche Gesicht Hannas vor sich, und ein übermächtiges Gefühl des Scheiterns ergreift Besitz von ihm.
    Die Kinderlosigkeit. Krampfhaft hatten sie sich ihrer Arbeit gewidmet, waren bemüht gewesen, für alles Mögliche Interesse aufzubringen – Bergwandern, Oper, Freunde. Alles vom Scheitern gefärbt, wenn sie auch nie darüber redeten. Hanna hatte wirklich Spaß an ihrer Arbeit gehabt. Historische Untersuchungen zur Mentalität der Menschen im achtzehnten Jahrhundert – Aufklärung, Wissenschaft, religiöser Wandel. Sie gab glutvolle Seminare für Studenten, von denen sie mit aufrichtigem Engagement sprechen konnte. Er spitzte dann sein professionelles Ohr und forschte nach Spuren von Ambivalenz, nach allzu aufgesetztem, allzu rigidem Optimismus, nach Hinweisen für innere Abwehr. Lass sie doch, dachte er anschließend, sie heuchelt nicht, sie scheint das wirklich zu genießen. Diese Kinder mögen sie, und sie ist dort in ihrem Element, Zufriedenheit allenthalben. Warum musst du denn wieder etwas zu bemängeln haben? Was sie tut und wie sie es tut, unterscheidet sich doch nicht wesentlich von deiner Haltung zur Arbeit, und die ist in deinen Augen ganz normal. Du liebst deinen Beruf und findest ihn faszinierend, obwohl man ihn genauso gut blödsinnig finden könnte. Eine rund zehnjährige Ausbildung, nach dem Facharzt für Psychiatrie oder, wie Peter es gemacht hatte, nach der Ausbildung zum klinischen Psychologen. Völliges Eintauchen in ein größtenteils überholtes psychoanalytisches Denken, Unterwerfung unter ein obsoletes Konstrukt aus Kursen, Seminaren und Supervision, jahrelange Lehranalyse. Das kostete insgesamt so viel Zeit, Geld und Aufmerksamkeit, dass man den Eindruck haben konnte, es sei das Allerwichtigste auf Erden. Die hierarchische Struktur der psychoanalytischen Vereinigung, in deren Händen die Ausbildung lag, hatte etwas von einer Glaubensgemeinschaft, einer Sekte, und ließ die angehenden Psychoanalytiker zu Schulkindern mutieren. Beim wöchentlichen Kursabend saßen sie zu zehnt mit dem Dozenten am Tisch und
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