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Die Betäubung: Roman (German Edition)

Die Betäubung: Roman (German Edition)

Titel: Die Betäubung: Roman (German Edition)
Autoren: Anna Enquist
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Krankenakte durch, räumt sein Zimmer auf, wirft Dinge weg, schafft andere herbei. Wenn sie fertig ist, gibt sie dem dementen Mann einen Kuss auf die Stirn und verschwindet wieder. Er kann das nicht. Wenn er seinen Vater besucht, setzt er sich zu ihm, versucht, so etwas wie Kontakt zu ihm herzustellen, und spürt, wie die Ratlosigkeit in ihm aufsteigt. So war es vielleicht auch nach Mamas Tod, denkt Drik. Vielleicht führen Suzan und er im Altenpflegeheim ein Theaterstück auf, dessen Szenario vor fünfundvierzig Jahren geschrieben wurde.
    Er war vier: ein beunruhigtes, besorgtes Kleinkind, das seinen Vater nicht aus den Augen lassen wollte und voller Furcht bei dem schwermütigen Mann sitzen blieb. Mit Unbehagen. Seine Schwester lernte schnell, dass sie den Vater ablenken, ja vielleicht sogar aufmuntern konnte, wenn sie etwas tat. Sie zeigte ihm ihr Spielzeug, schenkte ihm mit ihrem Puppenservice imaginären Tee ein, zwang ihn zuzuschauen, wenn sie sich auf ein Bein stellte. Das war natürlich später, Suzan war ja noch ein Baby gewesen, als es passierte, sechs Monate alt. Vermutlich war sie gerade abgestillt, und die Eltern fanden, dass sie jetzt ruhig mal eine Woche zusammen wegfahren konnten, um irgendwo in England eine Wandertour zu machen. Südwales, oben an der Steilküste entlang, mit Blick auf den Ozean. Drik ist nie dort gewesen. Er hat Fotos von den Klippen gesehen, den Gesteinsformationen, dem tosenden Wasser in der Tiefe. Dort oben sind sie den Küstenpfad entlanggelaufen, mit Rucksack und Wanderschuhen.
    Zu Hause übernahm Leida das Regiment, die Zwillingsschwester von Vater. Sie ist geblieben. Hatte sie kein eigenes Leben, keinen Beruf? Oder ließ sie nach dem Unglück alles stehen und liegen? Warum hat ihn das nie beschäftigt? Was er aber noch weiß, ist, wie schlimm es für ihn war, dass seine Eltern weggingen. Leida stopfte die Decke viel zu fest unter die Matratze, wenn sie ihm gute Nacht sagte, er lag da wie in einer Zwangsjacke. Sie schloss die Tür, so dass er das Licht auf dem Flur nicht sehen konnte und steif vor Angst auf den Schlaf wartete. Es roch anders im Haus, als sie da war.
    Was haben sie ihm erzählt, als Vater zurückkehrte? Die Erinnerungen daran sind für ihn nicht greifbar. Wahrscheinlich sind sie ein für alle Mal verloren gegangen, der zerstörerischen Gehirnchemie nach dem Trauma zum Opfer gefallen. Es muss Besuch da gewesen sein, die Polizei, der Bestattungsunternehmer, der Hausarzt, Freunde. Er weiß nichts mehr davon. Das einzige Bild, das er noch hat, ist in seinem eigenen Zimmer angesiedelt. Er sitzt mit dem Rücken an der Wand auf dem Fußboden, die Beine vor sich ausgestreckt. Er horcht: Ein Baby weint, es klingelt an der Haustür, jemand kommt die Treppe herauf. Sogar jetzt noch verspürt er Widerwillen, darüber nachzudenken.
    Wie seine Mutter abgestürzt ist und zweihundert Meter tiefer auf den Felsen in der Brandung zerschmetterte. Die Wellen werden ihre Haare bewegt haben. Sein Vater wird nach unten geschaut haben, auf die Knie gesunken sein. Und dann?
    Nie ist über diese Dinge gesprochen worden. Kein Wort. Für Vater zu schmerzlich, für ihn zu beängstigend. Eine stillschweigende Übereinkunft. Nach heutigen Erkenntnissen scharf zu verurteilen. Die Phantasie ist immer ärger als die Realität, so grauenhaft diese auch sein mag. Drik hat Höhenangst, eine Phobie, die er nicht einmal in seiner Lehranalyse zu thematisieren wagte.
    Erst jetzt fallen ihm die eigenartigen Parallelen zwischen seinem und dem Leben seines Vaters auf. Beide haben sie viel zu früh ihre Frau verloren, beide sind sie, was Haushalt und Strukturierung des Alltags betrifft, von ihrer Schwester gerettet worden. Über die Unterschiede lässt sich einfacher nachdenken: bei Vater ein abrupter Bruch, bei ihm selbst ein langsames Auseinanderreißen. Vater blieb erschüttert, aufgelöst zurück, mit einem Kleinkind und einem Baby. Und er selbst – tja, wie eigentlich? Apathisch, müde, aber nicht erschüttert.
    Er geht von dem asphaltierten Weg auf den Grünstreifen daneben und spürt, wie der Boden unter ihm federt, spürt die Kraft in seinen Beinen. Er blieb mit nichts zurück. Und verließ die gemeinsam mit Hanna hart erkämpfte Scheinwelt, in der sie sich damit versöhnt hatten, keine Kinder bekommen zu können, in der das Leben trotzdem unendlich reich und befriedigend und lebenswert war. Er schämt sich, als ihm bewusst wird, dass ihn das erleichtert. Er kann es jetzt ganz einfach furchtbar
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