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Die Betäubung: Roman (German Edition)

Die Betäubung: Roman (German Edition)

Titel: Die Betäubung: Roman (German Edition)
Autoren: Anna Enquist
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Augenbrauen hoch.
    »Ich muss noch den ganzen Vormittag sitzen.«
    »Hübsch getöpferte Stiefel hast du an.«
    Sie schaut auf ihre Füße und muss lachen. Gelbgrauer Schlamm bedeckt das weiche schwarze Leder.
    »Unter dem Schreibtisch kein Problem. Wann fängst du an?«
    »Erst um halb neun. Setz dich doch!«
    »Wie gefällt es dir eigentlich, tagaus, tagein auf der Ambulanz? Fehlt dir der OP nicht?«
    »Keine Sekunde«, sagt Berend. »Das war genau die richtige Entscheidung. Ich sehe wirklich nicht den ganzen Tag Patienten, weißt du, ich muss auch Assistenten anleiten und betreuen, wir machen Forschung, und wir konferieren eine ganze Menge. Beraten uns mit Neurologen und Physiotherapeuten. Und der Psychologie natürlich. Ich habe es gut hier. Es ist schön, die Patienten richtig kennenzulernen, das sind mitunter jahrelange Kontakte. Der Partner kommt oft mit, ich weiß, wo sie arbeiten, wenn sie arbeiten, wie es ihren Kindern geht, wie sie wohnen. Einen OP-Patienten siehst du nie wieder. Ein dösiger Blick bei der Ausleitung, und wenn du besonders eifrig bist, schaust du im Aufwachraum noch mal kurz nach ihm. Der Kontakt im Vorfeld ist auch superkurz – bei wie vielen Patienten, die du gleich sehen wirst, machst du selbst die Anästhesie? Das sind ein oder zwei von fünfzehn. Oder auch kein einziger. Kann keiner steuern. Ich will nicht sagen, dass es unpersönlich ist oder dass die Versorgung schlecht ist oder so, aber da fehlt die durchgehende Linie. Da wird verkannt, wie sehr sich persönlicher Kontakt auswirken kann. Bei uns ist das anders, wir arbeiten damit, setzen ihn als Instrument ein. Neben den Medikamenten und den Nadeln natürlich.«
    Suzan trinkt ihren Kaffee aus. Er hat recht, er kann so reden, dass er immer recht hat, auch wenn es Unsinn ist. Das jetzt ist zwar kein Unsinn, aber trotzdem. Wenn ich jemanden zur Operation hole, denkt sie, wenn ich ein Gesicht sehe, jemandes Haut fühle, Angst registriere, Schmerzen, wenn ich etwas erkläre, wenn ich beruhige, wenn ich jemandem auf den Tisch helfe und ihm leise zurede, während ich den venösen Zugang lege, wenn ich dafür sorge, dass es einen Moment still ist im OP, und ihn dann erst in Schlaf versetze – dann ist das genauso wie früher, wenn ich Roos ins Bett gebracht habe.
    Sie verabschiedet sich von Berend und tritt in ihren Schlammstiefeln auf den Flur hinaus.

3
    Auf Driks Schreibtisch liegt nun ein Notizblock. Er reißt die beschriebenen Seiten ab und breitet sie vor sich aus. Viel Text ist es nicht. »Schuurman«, steht da, »27«. »Mutter!«, mit einem Kreis darum herum. Alles in großer, krakeliger Schrift. Um vernünftig schreiben zu können, müsste er die Lesebrille aufsetzen, aber das will er nicht, weil das den direkten Kontakt zum Patienten behindern würde.
    Er schreibt Namen und Datum oben auf ein neues Blatt. »Erstgespräch«, mit Unterstreichung. »27jähriger Psychiatrieassistent, hat gerade mit der Weiterbildung angefangen, ist zur Lehrtherapie hier.« Er ächzt, lehnt sich zurück und streckt die Beine aus.
    Welchen Eindruck hat der junge Mann auf ihn gemacht, wie war sein Gefühl bei ihm? Drik ist sich unsicher. Liegt das an dem jungen Mann oder daran, dass diese Konsultation in seinem eigenen Leben einen besonderen Stellenwert hat? Er weiß es nicht. Er fühlt sich inkompetent, konfus. Er hat nicht herausfinden können, was dem Jungen fehlt, ob ihm überhaupt etwas fehlt. Die Begegnung war eigenartig – hinterhältig möchte er den Jungen gewiss nicht nennen, aber irgendetwas war nicht so, wie es sein sollte, irgendetwas hat er vermisst. Nun behalten Menschen ja bei einem ersten Gespräch häufig Dinge für sich, sie schämen sich, fühlen sich noch nicht sicher genug oder sind sich nicht darüber im Klaren, welche Bedeutung das Verschwiegene hat. Aber hier war das irgendwie anders gewesen. Gleichzeitig verspürt Drik großes Mitgefühl, der Patient tut ihm leid. Warum eigentlich? Der Junge möchte Psychiater werden, möchte Gedanken und Gefühle von Menschen verstehen, wie er sagt. Es fasziniere ihn, was auf diesem Gebiet alles falsch laufen könne. Welche Rolle die Genetik, die Pharmakologie, die Lebenserfahrungen spielten.
    Aber er hat Angst. Als er über die Arbeit sprach, die Abteilung, das unkalkulierbare Verhalten der stationär aufgenommenen Patienten, die Schwere der Symptome, den Lärm, presste er die Hände zu Fäusten zusammen, und Schweiß trat ihm auf die Stirn. Jetzt, da er gegangen ist, riecht Drik den
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