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Die Betäubung: Roman (German Edition)

Die Betäubung: Roman (German Edition)

Titel: Die Betäubung: Roman (German Edition)
Autoren: Anna Enquist
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finden. Ein Unglück. Zum Heulen. Er braucht nicht mehr tapfer zu sein, braucht niemanden mehr zu schützen, braucht sich keinen Zwang mehr anzutun. Er errötet. Eine primitive, vegetative Reaktion, denkt er, schäm dich. Ist es denn so schlimm, dass ich mich befreit fühle, froh bin, dass es vorbei ist? Nicht nur das demoralisierende Krankenbett, sondern vor allem auch das vorhergehende Theater. Wenn das einem Patienten von mir passieren würde, wüsste ich, was zu tun ist. Ich würde ihn in den verbotenen Regungen bestärken, würde vollstes Verständnis für seine heimliche Freude haben. Ich würde andächtig zuhören, und es würde mir nicht im Traum einfallen, seine Gedanken zu verurteilen oder abwegig zu finden. Wenn es um mich selbst geht, kann ich das nicht.
    Ohne dass er es gemerkt hat, sind seine Schritte in Stampfen übergegangen, der Schlamm spritzt in alle Richtungen. Ich muss, ich muss, denkt er. Aber was sollte er müssen, und wer sagt das?
    Gegen sechs macht er sich zu Peter und Suzan auf. Als er sein Fahrrad am Gartenzaun ankettet, kommt Peters letzter Patient aus dem Haus, eine schöne Frau in einem teuren, offen hängenden Mantel. Er nickt ihr zu und wartet, bis sie durch die Pforte hinaus ist. Dann geht er zur Tür und klingelt. Er küsst Suzan, die ihm aufmacht.
    »Du siehst heute aber gut aus«, sagt sie. Wieder schämt er sich. Die Erleichterung hat mich aufatmen lassen, sie sieht das an der Durchblutung meiner Haut, an der Entspannung meiner Gesichtsmuskeln. Hör auf, denkt er, lass dieses medizinische, analytische Beobachten. Jetzt ist Feierabend, wieder ist ein Tag vorbei, du bist unter Freunden, du bist geborgen.
    »Wie war dein Tag?«
    »Langweilig«, sagt Suzan. »Ambulanz. Ich habe fünfzehn Menschen gefragt, ob sie noch ihre eigenen Zähne haben und ob ich ihnen kurz in den Rachen schauen darf. Ich habe sie auf die Waage gestellt und ihre betrübliche Lunge abgehorcht. Nicht gerade erhebend, das Ganze. Sie fragen, ob sie mich bei der Operation sehen werden. ›Ihr Arzt wird Sie operieren‹, sage ich dann, ›ihn sehen Sie ganz bestimmt. Und einer meiner Kollegen wird Sie in Schlaf versetzen.‹ Unpersönlich, nicht?«
    »Sie suchen einen Halt. Es ist ja nicht ohne, die Regie über seinen Körper aus der Hand zu geben. Das macht Menschen zu kleinen Kindern. Kein Wunder, dass sie dich an ihrem Bett haben wollen.«
    »Manche können das nicht«, sagt Suzan. »Die fehlende Kontrolle versetzt sie in Panik. So jemanden hatte ich heute. Die Frau will unbedingt wach bleiben. Nun, das lässt sich schon machen. Ich kann einen Block setzen oder eine Spinalanästhesie machen. Für mich wär das ja nichts, aber wenn ein Patient es möchte, mach ich’s.«
    Sie berührt ihn am Arm. »Schön, dass du da bist. Whisky?«
    Sie stellt das Glas auf den Küchentisch, vor seinen Stuhl. Drik hängt sein Jackett über die Rückenlehne und setzt sich. Leichter Muskelkater in den Beinen, aber angenehm. Er blickt auf den Rücken seiner Schwester. Kerzengerade. Mühelos findet sie sich in dem Chaos aus Geschirr, Flaschen und Gemüse zurecht, bereitet einen Salat zu, füllt eine Auflaufform mit Lasagne, jongliert mit Kasserolle und Käsereibe. Sie drehen beide das Gesicht zur Tür, als sie Peters Schritte auf der Treppe hören.
    Peter legt Suzan kurz die Hand auf den Rücken und klopft Drik auf die Schulter. Dann reibt er die Hände und schenkt sich ein Glas ein.
    »Ich habe deine letzte Klientin weggehen sehen. Sie hat sich nicht mal die Zeit genommen, ihren Mantel zuzuknöpfen.«
    Peter lacht. »Auf der Flucht! Essensdüfte und Gemütlichkeit im Haus deines Therapeuten, da musst du sehen, dass du wegkommst. Kann ich etwas tun, Suus?«
    »Setz dich und unterhalte uns. Ich habe hier alles unter Kontrolle.«
    Sie geht in die Hocke und schiebt die Auflaufform in den Backofen. Mit einem kräftigen Wasserstrahl spült sie die Töpfe aus. Geschirrspüler. Handtuch auf den Halter. Drik kann sich auf einmal vorstellen, wie sie im Operationssaal vom Medikamentenschrank zum Narkosegerät geht, Schläuche kontrolliert, unter den Tisch kriecht, um nach möglichen Obstruktionen zu schauen, Spritzen zählt, an Knöpfen dreht. Alles gleichzeitig.
    »Ist der junge Schuurman schon bei dir gewesen?«, fragt Peter.
    »Ich habe ihn heute gesehen.« Sofort verspürt Drik wieder dieses eigenartige Gefühl des Unvermögens, das während des Gesprächs in ihm aufkam, die Angst, sein Können verloren zu haben, zu scheitern. Ich werde
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