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Die Angst des Tormanns beim Elfmeter

Die Angst des Tormanns beim Elfmeter

Titel: Die Angst des Tormanns beim Elfmeter
Autoren: Peter Handke
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Kassiererin. Einige Zeit, nachdem die letzte Vorstellung angefangen hatte, trat sie aus dem Kino. Um sie nicht zu erschrecken, wenn er zwischen den Buden auf sie zukäme, blieb er auf der Kiste sitzen, bis sie in einem helleren Teil des Naschmarkts war. In einem der verlassenen Stände, hinter dem heruntergezogenen Wellblech, läutete ein Telefon; die Telefonnummer des Standes war groß auf das Wellblech geschrieben. ›Ungültig!‹ dachte Bloch sofort. Er ging hinter der Kassiererin her, ohne sie einzuholen. Als sie in den Bus stieg, kam er gerade dazu und stieg hinter ihr ein. Er setzte sich ihr gegenüber, aber so, daß einige Sitzreihen zwischen ihnen waren. Erst als ihm eine Station später Neuankömmlinge die Sicht verstellten, konnte Bloch wieder zu überlegen anfangen: sie hatte ihn zwar angeschaut, aber offensichtlich nicht wiedererkannt; ob er sich durch die Schlägerei so verändert hatte? Bloch tastete sich über das Gesicht. Mit einem Blick in die Busscheibe zu prüfen, was siegerade tat, fand er lächerlich. Er zog die Zeitung aus der Innentasche seines Rocks, schaute auf die Buchstaben hinunter, las aber nicht. Dann, plötzlich, fand er sich dabei, wie er las. Ein Augenzeuge berichtete über einen Mord an einem Zuhälter, den man aus kurzer Entfernung ins Auge geschossen hatte. Hinten aus seinem Kopf flog eine Fledermaus heraus und klatschte gegen die Tapete. Mein Herz übersprang einen Schlag. Als, ohne daß ein Absatz gemacht wurde, die Sätze unvermittelt von etwas ganz anderem, von einer andern Person, handelten, schrak er auf. ›Da hätte man doch einen Absatz machen müssen!‹ dachte Bloch, der nach dem kurzen Aufschrecken wütend geworden war. Er ging durch den Mittelgang auf die Kassiererin zu und setzte sich ihr schräg gegenüber, so daß er sie anschauen konnte; aber er schaute sie nicht an.
    Als sie ausstiegen, erkannte Bloch, daß sie weit draußen waren, in der Nähe des Flughafens. Jetzt, in der Nacht, war es hier sehr still. Bloch ging neben dem Mädchen her, aber nicht so, als ob er sie begleiten wollte oder gar begleitete. Nach einiger Zeit berührte er sie. Das Mädchen blieb stehen, wandte sich ihm zu und berührte ihn auch, so heftig, daß er erschrak. Die Handtasche in ihrer freien Hand kam ihm einen Augenblick lang vertrauter vor als sie selber.
    Eine Zeitlang gingen sie nebeneinander her, in einigem Abstand, ohne sich zu berühren. Erst im Stiegenhaus berührte er sie wieder. Sie fing an zu laufen; er ging langsamer. Als er oben angekommen war, erkannte er ihre Wohnung daran, daß die Tür weit offenstand. Sie machte sich im Finstern bemerkbar; er ging zu ihr hin, und sie ließen sich sofort miteinander ein.
    Als er am Morgen, geweckt von einem Lärm, aus dem Fenster des Appartements schaute, sah er gerade ein Flugzeug landen. Das Blinken der Positionslichter an der Maschine brachte ihn dazu, den Vorhang zuzuziehen. Weil sie bis jetzt keine Lampe eingeschaltet hatten, war der Vorhang offengeblieben. Bloch legte sich nieder und schloß die Augen.
    Mit geschlossenen Augen überkam ihn eine seltsame Unfähigkeit, sich etwas vorzustellen. Obwohl er sich die Gegenstände in dem Raum mit allen möglichen Bezeichnungen einzubilden versuchte, konnte er sich nichts vorstellen; nicht einmal das Flugzeug, das er gerade landen gesehen hatte und dessen Bremsgeheul jetzt auf der Piste er wohl von früher wiedererkannte, hätte er in Gedanken nachzeichnen können. Er machte die Augen auf und schaute einige Zeit in eine Ecke, wo sich die Kochnische befand: er prägte sich denTeekessel ein und die verwelkten Blumen, die aus dem Abwaschbecken hingen. Kaum hatte er die Augen geschlossen, waren ihm Blumen und Teekessel schon unvorstellbar geworden. Er behalf sich, indem er statt Wörtern für diese Sachen Sätze bildete, in der Meinung, eine Geschichte aus solchen Sätzen könnte ihm erleichtern, sich die Sachen vorzustellen. Der Teekessel pfiff. Die Blumen waren dem Mädchen von einem Freund geschenkt worden. Niemand stellte den Teekessel von dem Elektrokocher. »Soll ich Tee machen?« fragte das Mädchen. Es nützte nichts: Bloch machte die Augen auf, als es unerträglich wurde. Das Mädchen neben ihm schlief.
    Bloch wurde nervös. Einerseits diese Aufdringlichkeit der Umgebung, wenn er die Augen offen hatte, andrerseits diese noch schlimmere Aufdringlichkeit der Wörter für die Sachen in der Umgebung, wenn er die Augen geschlossen hatte! ›Ob es daran liegt, daß ich gerade noch mit ihr
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