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Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin

Titel: Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
Autoren: Kai Meyer
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Hafenarbeiter aus der Leopoldstadt gekauft, der sich mit Fälschungen aller Art ein Zubrot verdiente. Der Mann hatte ihm geraten, immer ein paar versiegelte Tintenfässer bei sich zu tragen, wenn er das Papier benutzte. Diese Investition kam Gillian nicht zum ersten Mal zugute. Die Einfalt der Menschen war grenzenlos.
    Natürlich, er kenne den Weg zum Abt, versicherte Gillian dem Torwächter, und so ließ der Mann ihn ziehen. Freilich, hätte er versucht, in den Kapitelsaal des Klosters oder in die Räumlichkeiten des alten Gymnasiums einzudringen, so hätte man ihn wohl aufgehalten. Doch Gillian hatte ein anderes Ziel.
    Er ging diesen Weg nicht zum ersten Mal, und fand den Zugang zum Keller ohne jede Mühe und, wichtiger noch, ohne Aufsehen zu erregen. Eine steile Holztreppe führte fast zehn Meter in die Tiefe.
    Das Stift hatte seit seiner Gründung im zwölften Jahrhundert eine bewegte Geschichte erlebt, war von Feuersbrünsten verheert, von Milizionären geplündert und von Architekten beim Wiederaufbau verkrüppelt worden. Von romanischen Mauerresten, über barocke Hallen, bis hin zu Biedermeierkellern spiegelte sich in den Untergründen des Stifts die Historie der Stadt wider.
    Gillian aber hatte keinen Blick für die baulichen Wunder der Klosterkeller. Er hatte die alten Pläne studiert, er kannte sie auswendig. Ohne aufgehalten zu werden durcheilte er einige der Räume, die von den Benediktinern als Weinlager genutzt wurden. Er fragte sich, weshalb sich nicht jeder Wirt Wiens in diesen Kellern bediente, wenn es doch so einfach war, hier einzudringen.
    Er kam an einer Mauer vorbei, von der er wußte, daß hinter ihr die große Krypta der Stiftskirche lag, vollgestopft mit Särgen und mumifizierten Leichen. Wie passend, gerade diesen Weg in Lysanders Heim zu nehmen.
    Die Luft hier unten war kalt und abgestanden, wurde noch kälter, als er eine runde Metallplatte aus dem Boden löste und seine Füße auf die Eisensprossen setzte, die darunter in die Tiefe führten. Er entzündete eine Laterne, bevor er in die Finsternis abtauchte und die Platte über sich zurück an ihren Platz zog.
    Die Luftlinie bis zu seinem Ziel mochte kaum sechshundert Meter betragen, ein Katzensprung. Hier unten aber, im Labyrinth der Wiener Unterwelt, konnte solch eine Strecke zum Tagesmarsch werden. Trotzdem war er zuversichtlich, Lysander zum gewünschten Zeitpunkt gegenüberzutreten. In den zehn Jahren, die er jetzt in Wien lebte, war er so oft hier unten gewesen, hatte so viele Kilometer in den Kanälen und Kellern zurückgelegt, daß sie ihren Schrecken für ihn verloren hatten. Wichtig war allein, den zahlreichen Einbrecherbanden aus dem Weg zu gehen, die in den Gewölben Unterschlupf suchten. Sie mochten es nicht, wenn man durch ihre Diebeslager streifte, absichtlich oder aus Versehen. Zu vielen dieser Kerle saß die Klinge allzu locker im Stiefel.
    Harmloser waren die Sandler, die Obdachlosen, die sich in den Tunnels verkrochen. Am ehesten aber mochte Gillian die Fettfischer, die ihr ganzes Leben hier unten zubrachten. Anders als die Bettler und Herumtreiber stiegen sie nicht erst nachts in die Kanalisation herab, sondern lebten hier tagein, tagaus. Ihr Name rührte von den Fallen, die sie in großen Sammelkanälen aufspannten, Gitter und Netze, mit denen sie angeschwemmtes Fett, Fleisch und Knochen abschöpften. Ihre Beute verkauften sie für ein paar Kreuzer an Seifensieder und Masthäuser.
    Vor einigen Jahren war eines von Gillians Opfern im Netz eines Fettfischers angeschwemmt worden. Die Berichte über den Leichnam hatten in der Unterwelt innerhalb weniger Stunden die Runde gemacht, mehr noch die kabbalistischen Tätowierungen, mit denen der Körper bedeckt gewesen war. Gillian hatte den Toten ausgelöst, bevor die Fischer ihn der Polizei übergeben konnten. Das hatte ihn eine gehörige Summe gekostet, beinahe die Hälfte dessen, was man ihm für den Mord gezahlt hatte. Er hatte den Toten anderweitig beseitigt und aus dem Ganzen die Lehre gezogen, daß nahezu alles, was man im Wiener Untergrund verschwinden ließ, früher oder später wieder ans Tageslicht kam. Zumindest was Leichen anging, war dies eine höchst mißliche Gesetzmäßigkeit.
    Heute war Gillian froh über seine Erfahrungen im Untergrundlabyrinth der Stadt. Es half ihm, Lysander ein Schnippchen zu schlagen. Mochte man es kindisch nennen oder eitel, er selbst empfand außerordentliche Befriedigung dabei.
    Er hielt die flackernde Lampe hoch über seinen Kopf,
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