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Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin

Titel: Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
Autoren: Kai Meyer
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es ihn tragen würde. Auch die Seile wirkten morsch und zerfasert.
    Gillian hatte nur einen Versuch.
    Vorsichtig begann er den Aufstieg. Spinnweben wehten zwischen den Sprossen. Wenigstens bereitete ihm das Klettern keine Schwierigkeiten. Die Leiter pendelte ein wenig, drehte sich einmal halb um sich selbst, schien der Belastung aber standzuhalten. Immer weiter blieb der Boden zurück, fünf Meter, dann sechs. Gillian gab sich Mühe, nur nach oben zu blicken, zur Falltür hinauf, die er im Zwielicht seiner Handlampe schwach erkennen konnte. Sein Schatten an der Decke wucherte zu einer grotesken Form, die den oberen Teil des Eiskellers wie eine Gewitterwolke ausfüllte.
    Als Gillian kaum mehr zwei Meter von der Decke entfernt war, fiel plötzlich ein sanfter Lichtschimmer durch die Fugen der Falltür. Einen Augenblick später wurde sie aufgerissen. Die Silhouetten zweier Gestalten zeichneten sich vor gelblichem Zwielicht ab. Sie reckten Köpfe und Schultern über die Öffnung.
    Gillian erstarrte. Der Abgrund unter ihm – sechs, sieben Meter tief – schien plötzlich bodenlos.
    Einer der Scherenschnitte hielt eine einzelne Kerze über den Rand der Öffnung. Wachs tropfte auf Gillians Wange. Die Flamme erhellte zwei vollkommen gleiche Gesichter, grau und eingefallen, mit nahezu schlohweißem Haar. Es war unmöglich, ihr Alter zu schätzen, sie sahen schon so aus, seit Gillian sie kannte. Stein und Bein, Lysanders Zwillingsdiener. Mochte der Teufel wissen, wo er die beiden gefunden hatte. Auch ob Lysander ihnen diese Namen gegeben hatte, war ungewiß. Sollten sie jemals andere gehabt haben, so waren sie längst vergessen.
    Der eine, der die Kerze hielt – Gillian riet, es sei Stein –, verzog die schmalen Lippen zu einem Grinsen.
    »Wenn das nicht der Besuch für den Herrn ist!«
    »Aber wo kommt er her?« fragte Bein und grinste gleichfalls.
    »Fühlt er sich wirklich wohl in seiner Lage?«
    Gillian spürte, daß seine Hände allmählich zu schmerzen begannen. Er mußte von dieser Leiter herunter, so schnell wie möglich, wagte aber nicht, wieder nach unten zu klettern. Er ahnte, was die beiden dann tun würden.
    Offenbar war genau das ohnehin ihre Absicht.
    Stein hielt die Kerze näher an einen der morschen Stricke. Noch wenige Fingerbreit, und das Seil würde brennen wie eine Lunte.
    »Glaubst du, das würde ihm gefallen?« fragte er seinen Zwillingsbruder.
    Bein kicherte verschlagen. »Man kann nie sicher sein.«
    »Hört auf mit dem Unsinn!« rief Gillian zu ihnen hinauf. »Lysander will mich sehen, also helft mir gefälligst hoch.«
    »Das ist wahr«, sagte Stein.
    »Aber sagte er, lebend sehen?« fügte Bein hinzu.
    »Ich kann mich nicht erinnern.«
    »Das ist schlecht.«
    »Sehr schlecht.«
    Gillian verlor die Beherrschung. Provokativ zog er sich zwei weitere Sprossen empor und brüllte den beiden ins Gesicht: »Spielt eure Spielchen mit einem anderen! Ich bin hier als Lysanders Gast!«
    »Aber nicht auf dem Weg, den er wünschte«, entgegnete Stein, immer noch an seinen Bruder gewandt. Die beiden sprachen nur miteinander und mit ihrem Herrn, eine ihrer merkwürdigen Angewohnheiten. Eine andere war ihr ausgeprägter Sadismus.
    Stein hielt die Kerze noch näher an den Strick. Ein leichter Luftzug, und die Flamme mochte auf den staubtrockenen Hanf übergreifen. Wieder fiel ein Wachstropfen in Gillians Gesicht.
    »Man hört nicht auf das, was einem gesagt wird«, meinte Stein mit tückischer Ruhe.
    »Er ist ja auch kein Mann«, sagte Bein.
    »Aber auch keine Frau.«
    »Er ist von beidem etwas. Ein hübscher Mädchenjunge.«
    »Ein Mädchenjunge, genau.«
    »Wir sollten ihn bitten, sich auszuziehen.«
    »Ja«, stimmte Stein seinem Bruder zu, »wir wollen sehen, wie einer wie er wohl aussieht.«
    »Hat er Brüste?«
    »Wenn ja, dann sind sie flach.«
    »Hat er Bartwuchs?«
    »Ich kann keinen sehen.«
    »Hat er einen –« Und beide brachen in kindisches Kichern aus, das so gar nicht zu ihren verhärmten Gesichtern paßte.
    Gillians Gedanken drehten sich siedendheiß im Kreis. Er war schon in auswegloseren Situationen gewesen, mehr als einmal, aber meist hatte er es mit normalen Gegnern zu tun gehabt, nicht mit Wahnsinnigen.
    Er wollte etwas sagen, irgend etwas, das die Flamme von dem Strick fortbewegen würde, doch ein anderer kam ihm zuvor.
    »Stein! Bein!« sagte eine ruhige Stimme. »Gillian ist nicht euer Spielzeug.«
    Mit einem Schnauben, das vielleicht Empörung signalisieren sollte, zog Stein die Kerze
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