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Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin

Titel: Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
Autoren: Kai Meyer
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musterte ihn einen Moment lang erstaunt, dann lächelte sie milde. »Oh, mein Schatz, wir werden nicht selbst rudern müssen. Das tun die Bediensteten für uns. Sie warten schon unten am Strand.«
    Mein Schatz. So hatte sie ihn jetzt schon ein paar Mal genannt. Er fühlte sich unwohl dabei. Christopher war siebzehn Jahre alt, fast schon ein Mann, und dennoch behandelte sie ihn wie ein Kind. Wie ihr Kind. Denn genau das würde er fortan sein.
    Er spürte, daß er niesen mußte, und schnappte nach Luft. Besorgt reichte sie ihm ein frisches Schnupftuch. Gerade noch rechtzeitig.
    Wunderbar, dachte er, sie muß glauben, sie hole sich einen Krüppel ins Haus. Dabei war er gar nicht krank, nicht mal erkältet. Es war der Geruch, der ihn niesen ließ. Der Geruch des Buches. Er war allergisch dagegen.
    Endlich kam die Kutsche zum Stehen.
    Christopher wartete, bis Charlotte ins Freie geklettert war, und folgte ihr dann. Seine Füße landeten im weichen Sand. Kälte wehte ihm von der Ostsee ins Gesicht. Schon nach wenigen Augenblicken schmeckten seine Lippen salzig.
    Ein langer Steg reichte vom Strand hinaus ins Meer. An seinem Ende hatte ein Boot mit eingerollten Segeln festgemacht. Mit dröhnenden Schritten kamen ihnen drei Männer über die Holzbohlen entgegen, alle drei verneigten sich vor Charlotte. Dann nickten sie auch Christopher ehrerbietig zu. Das war so neu für ihn, daß er beinahe aufgelacht hätte. Aber er würde sich auch daran gewöhnen.
    Der Kutscher ließ seine Pferde wenden und verabschiedete sich mit einem Wink und Peitschenknallen. Dann rollte das Gefährt durch die Dünen davon.
    Wenig später saß Christopher neben Charlotte in einer windgeschützten Kajüte. Das Boot legte vom Steg ab. Jeder Schritt der drei Männer klang hier drinnen wie lautes Poltern. Christopher versuchte hinauszublicken, doch die beiden Fenster waren salzverkrustet und nahezu blind. Charlotte sah ihn freundlich an, als wolle sie im nächsten Moment seine Wange tätscheln.
    Sie glaubt, ich freue mich, dachte er. Und das tue ich doch auch, oder? Ich freue mich.
    Das Boot stach in See, rauschte der Insel und dem Schloß auf ihren Klippen entgegen.
    »Es sind gerade mal fünfhundert Meter«, sagte Charlotte. »Es sieht weiter aus, findest du nicht?«
    Christopher nickte zustimmend. Bislang hatte er sich darüber keine Gedanken gemacht. Er wußte nur, daß fünfhundert Meter eine ganz schöne Strecke waren, wenn man sie schwimmen mußte.
    Er wurde noch stiller als zuvor, ohne daß Charlotte es ihm übelnahm. Sie hatte das Buch, dessen Geruch ihm so zu schaffen machte, in einer Tasche verstaut. Allmählich konnte er wieder durchatmen.
    Unter ihren aufmerksamen Blicken dachte er zurück.
    An die Kutsche, an das Dorf. An die Eisenbahnfahrt, seine erste, ganz alleine noch dazu. Und an das große Haus in Lübeck, das er hinter sich gelassen hatte, das Haus voller Kinder und Geschrei. Nie wieder würde er den dumpfen Geruch der Schlafsäle ertragen müssen, den Odem von Geheimnissen unter durchgeschwitzten Laken und von kindlicher Feindschaft.
    Er würde Bruder Markus vermissen. Nur ihn, nichts sonst. Bruder Markus hatte ihm Hoffnung auf eine bessere Zukunft gemacht, immer und immer wieder. Jetzt lag diese Zukunft vor ihm, dort draußen, vor dem Bug des Schiffes. Ein einsamer Felsklotz in der Ostsee.
    Es ist viel behaglicher, als es aussieht.
    Zum ersten Mal überkam ihn echte Trauer. War das etwa Heimweh?
    Ich bin sicher, ich werde mich wohl fühlen.
    Das da vorne war jetzt sein Heim. Sein Zuhause.
    Nur fünfhundert Meter.
    So nahe also war die Zukunft. So nah.
    Bruder Markus hatte ihn persönlich zum Bahnhof gebracht. Das war keineswegs selbstverständlich, meist übernahm das einer der Knechte. Sie luden die Kinder vor ihren neuen Elternhäusern oder Arbeitsstätten ab wie eine Fuhre Kohle, kassierten ihr Trinkgeld und verschwanden mit mürrischen Mienen.
    Mit Christopher war es anders. Er war der Älteste im Heim und, so glaubte Bruder Markus, der Klügste. Wiewohl, hätte man ihn aufgefordert, diese Behauptung unter Beweis zu stellen, so wäre es ihm schwergefallen. Denn was den Bruder überzeugt hatte, war nicht abrufbares Wissen oder Geschick im Umgang mit Zahlen, nein, es war Christophers Krankheit, so sonderbar es schien.
    Seit seiner Kindheit konnte der Junge den Geruch von Buchbinderleim nicht ertragen, rang bei jedem Band nach Luft, verkrampfte sich vor Regalen und verlor in Bibliotheken das Bewußtsein. Dennoch bestand er darauf
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