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Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin

Titel: Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
Autoren: Kai Meyer
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Gefängnis.«
    Er hatte so oft versucht, ihr zu widersprechen, daß er es diesmal bleiben ließ. Es gab nichts Vernünftiges, das er darauf hätte erwidern können. Außerdem wußte sie genau, daß er in Wahrheit genauso darüber dachte wie sie.
    Daniel ließ seine Hand an ihrem Nacken hinabwandern, streichelte sanft die Vertiefung zwischen ihren Schulterblättern.
    Sie fühlte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen, und versuchte verzweifelt, sie zu unterdrücken. Sie wußte, er würde sie loslassen, wenn er es bemerkte. Ihre Tränen hatten die schlechte Angewohnheit, ihn zur Vernunft zu bringen.
    Schweigend standen sie da, hielten sich fest, während Aura sich mit aller Kraft beherrschte. Es war sinnlos. Es half keinem von beiden.
    Vom ersten Tag an war es zwischen ihnen nicht einfach gewesen. Oft genug hatte Aura die Barriere durchbrechen wollen, doch Daniel hatte sie erst durch seinen Humor und später, als der ihm verging, durch krampfhafte Distanz aufrechterhalten. Sie waren nur Stiefgeschwister, keine echten Verwandten, doch das war nicht das wirkliche Problem.
    In Wahrheit ging es um Daniels Unfall. Und um die Tatsache, daß er damit nicht fertig wurde.
    Das Schweigen wurde beiden immer unangenehmer, bis Aura sich schließlich von seiner Schulter löste und nach einem unmerklichen Schlucken sagte: »Dieser Christopher ist eben angekommen.«
    »Und, wie ist er?« Man konnte ihm seine Erleichterung darüber anmerken, daß sie es war, die sich zurückzog. Sein Atem ging eine Spur zu schnell.
    »Mutter behütet ihn wie eine Glucke.«
    »Das kann sie gut.«
    Aura schüttelte den Kopf. »Bei dir war es anders.«
    »Das bildest du dir ein.«
    »Nein«, widersprach sie fest. »Sie versucht an ihm gutzumachen, was –« Sie verstummte schlagartig, als ihr klar wurde, was sie beinahe ausgesprochen hätte.
    »Was bei mir schiefgelaufen ist«, führte Daniel den Satz zu Ende.
    »Ja, vielleicht.«
    Aura ergriff seine Hand. »Ich wollte das nicht sagen.«
    »Schon gut.« Er zog seine Finger zurück und trat zwischen den hohen Bücherregalen an das einzige Fenster. Er hätte es wohl gern geöffnet und hinaus aufs Meer geblickt, aber er wußte auch, daß der Riegel seit Jahren klemmte. Die wenigsten Fenster im Schloß ließen sich öffnen.
    Vielleicht sind es die Farben, dachte Aura, vielleicht sind sie es, die uns alle so trübsinnig machen – das Fehlen von reinem, weißem Licht.
    Das Mosaik des Bibliotheksfensters zeigte eine Art Flasche, in deren Innerem ein Pfau mit gesträubtem Schwanzgefieder gefangen war. Auf dem Flaschenhals steckte eine prächtige Königskrone. Darüber spannte sich eine Wolkendecke, durch deren Täler zwei Vögel einen goldenen Streitwagen zogen. In ihm saß eine blonde Frauengestalt.
    Aura fühlte sich mehr und mehr wie der Pfau, gefangen in einem gläsernen Kerker, durch Umstände, die sie nicht verstand.
    Daniel hatte das Gesicht immer noch zum Fenster gewandt, als könne er durch die vielfarbigen Bruchstücke hinausschauen, so, wie er manchmal durch Auras Gesicht direkt in ihre Gedanken blickte. Es war unheimlich, wie oft er im voraus wußte, was sie als nächstes sagen, sogar denken würde.
    »Vielleicht ist es besser, wenn du jetzt gehst«, meinte er leise, immer noch, ohne sie anzusehen. »Es ist noch nicht an der Zeit für den Abschied.«
    »Noch vier Tage.« Aura schloß für einen Moment die Augen, in der schwachen Hoffnung, Daniel würde vor ihr stehen und sie anlächeln, wenn sie die Lider wieder aufschlug. Vergebens. »Vergiß das nicht«, fügte sie hinzu und wandte sich zur Tür.
    Er flüsterte etwas, als sie hinaus auf den Gang trat. Es mochte alles mögliche bedeuten, doch sie hoffte, es hieß: »Bestimmt nicht.« Ganz sicher hieß es das.
    Sie schalt sich einfältig, schalt sich kindisch, doch als sie durch die Flut schillernder Farben davoneilte, ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Der Gang wurde lang und länger, die Lichter schienen intensiver, und wieder schloß sie die Augen, rannte blind geradeaus, bis sie die nächste Tür erreichte. Ein weiterer Korridor zu ihrer Linken. Lautlose Schritte auf knöchelhohen Teppichen. Ihr Atem, der in ihren Ohren raste. Ihr Herzschlag.
    Sie stürmte die geschwungenen Stufen in einem der beiden Treppenhäuser hinauf. Vorbei am ersten und zweiten Stock, hinein in einen weiteren Flur. Tür um Tür warf sie auf, während sie den Gang entlangrannte. Im Laufen fingerte sie nach der Kette an ihrem Hals, nach dem Schlüssel, der daran hing.
    Sie
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