Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Akte

Titel: Die Akte
Autoren: John Grisham
Vom Netzwerk:
und allein der Umstand, dass er immer noch atmete, brachte den größten Teil des Mobs da unten auf der Straße in Aufruhr.
    Er saß in seinem Rollstuhl in seinem Büro im Gebäude des Gerichts. Seine Füße berührten die Fensterkante, und er beugte sich vor, als der Lärm anschwoll. Er hasste Polizisten, aber zu sehen, wie sie in dichten, ordentlichen Reihen dastanden, war doch ein wenig beruhigend. Sie standen unerschütterlich da, während der Mob, mindestens fünfzigtausend Menschen, nach Blut schrie.
    »So viele waren es noch nie!« krächzte Rosenberg, ohne sich umzusehen. Er war fast taub. Jason Kline, sein ältester Mitarbeiter, stand hinter ihm. Der erste Montag im Oktober, der Eröffnungstag der neuen Sitzungsperiode, war zu einer traditionellen Feier des Ersten Verfassungszusatzes ausgeartet einer grandiosen Feier. Rosenberg war begeistert. Für ihn war Redefreiheit gleichbedeutend mit Freiheit zu Demonstration und Aufruhr.
    »Sind die Indianer dabei?« fragte er laut.
    Jason Kline beugte sich zu seinem rechten Ohr. »Ja!«
    »In voller Kriegsbemalung?«
    »Ja! Mit allem, was dazugehört.«
    »Tanzen sie?«
    »Ja!«
    Die Indianer, die Schwarzen, Weißen, Braunen, Frauen, Schwulen, Naturschützer, Christen, Abtreibungsaktivisten, Arier, Nazis, Atheisten, Jäger, Tierfreunde, weiße Suprematisten, schwarze Suprematisten, Steuerverweigerer, Farmer - es war ein gewaltiges Meer des Protestes. Und die Einsatzkommandos der Polizei umklammerten ihre schwarzen Stöcke.
    »Die Indianer sollten mich lieben!«
    »Das tun sie bestimmt.« Kline nickte und lächelte den gebrechlichen kleinen Mann mit den geballten Fäusten an. Seine Ideologie war simpel: die Regierung rangierte vor dem Geschäft, der Einzelne vor der Regierung und die Umwelt vor allem anderen. Und was die Indianer betraf - gebt ihnen, was immer sie haben wollen.
    Das Beten, Singen, Skandieren, Rufen und Schreien wurde lauter. Die Polizisten rückten näher zusammen. Der Mob war größer und wütender als in den vorausgegangenen Jahren. Die Atmosphäre war gespannter. Gewalt war an der Tagesordnung. Auf Abtreibungskliniken waren Bombenattentate verübt worden. Ärzte hatte man angegriffen und verprügelt. In Pensacola war einer umgebracht worden, geknebelt, in der Position eines Fetus zusammengeschnürt und mit Säure verätzt. Allwöchentlich kam es zu Straßenschlachten. Militante Schwule hatten Geistliche und Kirchen attackiert. Weiße Suprematisten hatten sich zu einem Dutzend bekannter, finsterer paramilitärischer Organisationen formiert und waren bei ihren Angriffen auf Schwarze, Lateinamerikaner und Asiaten wesentlich kühner geworden. Hass war Amerikas beliebtester Zeitvertreib.
    Und natürlich war das Gericht eine bequeme Zielscheibe. Drohungen, ernstzunehmende Drohungen gegen die Richter hatten sich seit 1990 verzehnfacht. Der Polizeischutz des Obersten Bundesgerichts war verdreifacht worden. Mindestens zwei FBI-Agenten waren mit der Bewachung jedes Richters beauftragt und weitere fünfzig damit beschäftigt, den Drohungen nachzugehen.
    »Sie hassen mich, nicht wahr?« sagte er laut und schaute aus dem Fenster.
    »Ja, etliche von ihnen tun das«, erwiderte Kline belustigt.
    Rosenberg freute sich, das zu hören. Er lächelte und inhalierte tief. Achtzig Prozent der Drohungen waren gegen ihn gerichtet.
    »Haben sie auch Transparente bei sich?« fragte er. Er war fast blind.
    »Eine ganze Menge.«
    »Was steht drauf?«
    »Das Übliche. Rosenberg soll zurücktreten. Nieder mit Rosenberg. Schluss mit dem Sauerstoff.«
    »Solche blöden Sprüche klopfen sie schon seit Jahren. Warum lassen sie sich nicht mal was Neues einfallen?«
    Kline antwortete nicht. Abe hätte schon vor Jahren zurücktreten sollen, aber eines Tages würden sie ihn auf einer Bahre hinaustragen. Seine drei Mitarbeiter erledigten den größten Teil der Recherchen, aber Rosenberg bestand darauf, seine Urteile selbst zu schreiben. Er tat es mit einem dicken Filzstift und kritzelte seine Worte auf große Kanzleibögen, ungefähr wie ein ABC-Schütze, der gerade schreiben lernt. Es war ein langsames Arbeiten, aber was macht das schon, wenn man auf Lebenszeit in sein Amt berufen ist? Die Mitarbeiter überprüften seine Urteile und fanden selten einen Fehler.
    Rosenberg kicherte. »Wir sollten den Indianern Runyan zum Fraß vorwerfen.« John Runyan war der Gerichtspräsident, ein zäher Konservativer, von einem Republikaner ernannt und bei den Indianern und den meisten anderen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher