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Die Akte

Titel: Die Akte
Autoren: John Grisham
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erläutern?«
    Sofort sagte Sallinger aus der vierten Reihe heraus: »Nein, Sir.«
    »Ah ja. Liegt das vielleicht daran, dass Sie Rosenbergs Urteil nicht gelesen haben?«
    »Das könnte es. Ja, Sir.«
    Callahan funkelte ihn an. Seine geröteten Augen ließen den arrogant finsteren Blick noch drohender wirken. Allerdings sah ihn nur Sallinger, da die Augen aller anderen auf ihre Hefte gerichtet waren. »Und warum nicht?«
    »Weil ich versuche, keine Minderheitsvoten zu lesen. Vor allem nicht die von Rosenberg.«
    Dumm. Dumm. Dumm. Sallinger hatte offenbar beschlossen, den Kampf aufzunehmen, aber er hatte keine Munition. »Haben Sie etwas gegen Rosenberg, Mr. Sallinger?«
    Callahan verehrte Rosenberg. Betete ihn an. Las Bücher über den Mann und seine Urteile. Studierte ihn. Hatte sogar einmal mit ihm gegessen.
    Sallinger zappelte nervös. »Oh nein, Sir. Ich mag nur keine Minderheitsvoten.«
    Es steckte ein bisschen Humor in Sallingers Antwort, aber niemand lächelte. Später, bei einem Bier, würden er und seine Kommilitonen lauthals lachen, wenn über Sallinger und seinen Abscheu vor Minderheitsvoten, insbesondere solchen von Rosenberg, geredet wurde. Aber nicht jetzt.
    »Ich verstehe. Lesen Sie Mehrheitsentscheidungen?«
    Zögern. Sallingers schwächlicher Versuch zu kämpfen konnte nur eine Demütigung nach sich ziehen. »Ja, Sir. Eine Menge.«
    »Großartig. Dann erklären Sie doch bitte die Mehrheitsentscheidung im Fall Nash gegen New Jersey.«
    Sallinger hatte noch nie von Nash gehört, aber jetzt würde er den Fall während seiner gesamten juristischen Laufbahn nie wieder vergessen. »Ich glaube, die habe ich nicht gelesen.«
    »Sie lesen also keine Minderheitsvoten, Mr. Sallinger, und jetzt erfahren wir, dass Sie auch Mehrheitsentscheidungen vernachlässigen. Was lesen Sie eigentlich, Mr. Sallinger? Liebesromane? Boulevardzeitungen?«
    Es folgte ein flüchtiges Lachen aus den Reihen oberhalb der vierten, und es kam von Studenten, die sich zum Lachen verpflichtet fühlten, aber gleichzeitig keinesfalls die Aufmerksamkeit auf sich lenken wollten.
    Sallinger, jetzt rot im Gesicht, starrte Callahan nur an.
    »Warum haben Sie den Fall nicht gelesen, Mr. Sallinger?« fragte Callahan.
    »Ich weiß es nicht. Er muss mir irgendwie entgangen sein.«
    Callahan nahm es erstaunlich gut auf. »Das überrascht mich nicht. Ich habe ihn vorige Woche erwähnt. Letzten Mittwoch, um genau zu sein. Er wird im Abschlussexamen vorkommen. Ich verstehe nicht, wie Sie einen Fall ignorieren können, der Bestandteil des Examens ist.« Callahan wanderte jetzt langsam vor seinem Pult herum und musterte die Studenten. »Hat sich irgend jemand sonst die Mühe gemacht, ihn zu lesen?«
    Schweigen. Callahan schaute zu Boden und ließ die Stille einsinken. Alle Augen waren gesenkt, alle Kugelschreiber und Bleistifte erstarrt. Von der obersten Reihe stieg Rauch auf.
    Endlich hob auf dem vierten Platz in der dritten Reihe Darby Shaw langsam die Hand, und die Klasse stieß einen kollektiven Seufzer der Erleichterung aus. Sie hatte sie wieder einmal gerettet. Irgendwie erwartete man das von ihr. Sie war die Nummer Zwei in ihrer Klasse, ganz nahe der Nummer Eins, und sie konnte die Fakten und Ansichten und Präzedenzfälle und Minderheitsvoten und Mehrheitsentscheidungen von praktisch jedem Fall zitieren, den Callahan ihnen an den Kopf geworfen hatte. Ihr entging nichts. Die perfekte kleine Cheerleaderin besaß einen Magna cum laude-Grad in Biologie und hatte sich vorgenommen, ein Magna cum laude in Rechtswissenschaft zu erreichen und sich danach ihren Lebensunterhalt damit zu verdienen, dass sie Chemiefirmen wegen Umweltzerstörung verklagte.
    Callahan musterte sie mit gespielter Frustration. Sie hatte drei Stunden zuvor seine Wohnung verlassen, nach einer langen Nacht mit Wein und Rechtswissenschaft. Aber von Nash war zwischen ihnen nicht die Rede gewesen.
    »Sehr schön, Ms. Shaw. Weshalb ist Rosenberg empört?«
    »Er meint, dass das Gesetz von New Jersey gegen den Zweiten Verfassungszusatz verstößt.« Sie sah den Professor nicht an.
    »Das ist gut. Und damit auch der Rest der Klasse informiert ist - was besagt dieses Gesetz?«
    »Es verbietet halbautomatische Schusswaffen, unter anderem.«
    »Wunderbar. Und nur des Spaßes halber - was besaß Mr. Nash zum Zeitpunkt seiner Verhaftung?«
    »Eine AK.-47.«
    »Und was passierte mit ihm?«
    »Er wurde zu drei Jahren verurteilt und ging in die Berufung.«
    Sie wusste über die Details
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