Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Akte

Titel: Die Akte
Autoren: John Grisham
Vom Netzwerk:
schenken. Es ist, als hätte man es mit einem zurückgebliebenen Kind zu tun.«
    »Er ist wegen Depressionen in Behandlung.«
    »Ich weiß, ich weiß. Er erzählt mir davon. Ich bin seine Vaterfigur. Welches Medikament?«
    »Prozac.«
    Der Chief stocherte unter seinen Fingernägeln herum. »Was ist mit dieser Aerobic-Lehrerin, mit der er sich immer getroffen hat? Läuft das noch?«
    »Eigentlich nicht, Chief. Ich glaube, er macht sich nicht viel aus Frauen.« Lewis war mit sich zufrieden. Er wusste mehr. Er warf einem seiner Agenten einen Blick zu und bestätigte diesen pikanten kleinen Leckerbissen.
    Runyan wollte davon nichts hören. »Kooperiert er?«
    »Natürlich nicht. In vielem ist er schlimmer als Rosenberg. Er lässt zu, dass wir ihn zu dem Haus begleiten, in dem er wohnt. Aber dann lässt er uns die ganze Nacht auf dem Parkplatz sitzen. Er wohnt im siebten Stock, wie Sie vielleicht wissen. Wir dürfen uns nicht einmal in der Eingangshalle aufhalten. Das stört die Mitbewohner, sagt er. Also sitzen wir in unseren Wagen. Das Gebäude hat zehn Ein- und Ausgänge, und es ist unmöglich, ihn zu beschützen. Er spielt Verstecken mit uns. Er schleicht die ganze Zeit herum, und wir wissen nie, ob er im Haus ist oder nicht. Bei Rosenberg wissen wir wenigstens, dass er die ganze Nacht über da ist. Jensen ist unmöglich.«
    »Großartig. Wenn Sie ihm nicht folgen können, wie kann es dann ein Mörder?«
    Der Gedanke war Lewis noch nicht gekommen. Die Ironie entging ihm. »Der Direktor macht sich große Sorgen um Jensens Sicherheit.«
    »Er bekommt nicht so viele Drohbriefe.«
    »Er ist Nummer sechs auf der Liste, nur ein paar weniger als Sie, Chief.«
    »Oh. Also stehe ich auf dem fünften Platz.«
    »Ja. Gleich hinter Richter Manning. Der kooperiert übrigens. Voll und ganz.«
    »Er fürchtet sich vor seinem eigenen Schatten«, sagte Runyan, dann zögerte er. »Das hätte ich nicht sagen sollen. Tut mir leid.«
    Lewis ignorierte es. »Überhaupt ist die Zusammenarbeit einigermaßen gut, von Rosenberg und Jensen abgesehen. Richter Stone beschwert sich dauernd, aber er hört auf uns.«
    »Er beschwert sich über alles mögliche, also nehmen Sie es nicht persönlich. Was glauben Sie, wo Jensen sich hinschleicht?«
    Lewis warf einem seiner Agenten einen Blick zu. »Wir haben keine Ahnung.«
    Ein großer Teil des Mobs vereinigte sich plötzlich zu einem hemmungslosen Chor, und alle Leute auf der Straße schienen einzufallen. Der Chief konnte es nicht länger ignorieren. Er stand auf und beendete die Zusammenkunft.
    Das Büro von Richter Glenn Jensen lag im zweiten Stock, der Straße und dem Lärm abgewandt. Es war ein geräumiges Zimmer, aber das kleinste von den neun. Jensen war unter den Bundesrichtern der jüngste und konnte von Glück sagen, dass er überhaupt ein Büro hatte. Als er sechs Jahre zuvor im Alter von zweiundvierzig Jahren nominiert worden war, galt er als strenger, gesetzestreuer Jurist mit ausgesprochen konservativen Ansichten, genau wie der Mann, der ihn nominiert hatte. Seine Bestätigung durch den Senat war eine Schlacht gewesen. Vor dem Komitee hatte Jensen eine schlechte Figur gemacht. Bei heiklen Themen suchte er Ausflüchte, und beide Seiten fielen über ihn her. Die Republikaner waren peinlich berührt. Die Demokraten rochen Blut. Der Präsident hatte getan, was er nur irgend konnte, und Jensen war mit einer Mehrheit von nur einer sehr widerwilligen Stimme bestätigt worden.
    Aber er hatte es geschafft, auf Lebenszeit. In seinen sechs Jahren im Amt hatte er es niemandem recht gemacht. Tief verletzt vom Resultat seiner Anhörung hatte er sich geschworen, Mitleid zu empfinden und entsprechend zu urteilen. Das hatte die Republikaner aufgebracht. Sie fühlten sich betrogen, vor allem, als er eine latente Leidenschaft für die Rechte der Kriminellen in sich entdeckte. Fast ohne jeden ideologischen Gewaltakt verließ er schnell die Rechte und rückte zuerst in die Mitte und dann auf die Linke. Und dann, während sich die Rechtsgelehrten die Spitzbärte rauften, schoss Jensen zurück auf die Rechte und schloss sich Richter Sloan bei einem seiner abscheulichen Minderheitsvoten gegen die Rechte der Frauen an. Jensen mochte keine Frauen. Er war neutral, was Gebete anging, skeptisch in bezug auf Redefreiheit, mitfühlend bei Steuerprotestlern, gleichgültig gegenüber den Indianern, ängstlich gegenüber Schwarzen, hart gegen Verfasser pornographischer Schriften, weich gegen Kriminelle und einigermaßen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher