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Die Akte

Titel: Die Akte
Autoren: John Grisham
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selten vorkam, ließ er sich einen Bart stehen. Man wusste, dass er oft Affären mit Studentinnen hatte.
    Er war auch beliebt, weil er Verfassungsrecht lehrte, ein ziemlich verhasstes Thema, aber Pflichtstoff. Mit seiner Brillanz und seinem coolen Wesen schaffte er es, Verfassungsrecht interessant zu machen. Das brachte in Tulane sonst niemand fertig. Und im Grunde wollte es auch niemand; also drängten sich die Studenten, um an Callahans Seminar über Verfassungsrecht um elf teilzunehmen, an drei Vormittagen in der Woche.
    Achtzig von ihnen saßen in sechs ansteigenden Reihen und flüsterten, während Callahan vor seinem Pult stand und seine Brille putzte. Es war genau fünf Minuten nach elf; immer noch zu früh, dachte er.
    »Wer hat Rosenbergs Minderheitsvotum in Nash gegen New Jersey verstanden?« Alle Köpfe senkten sich, und im Saal war es still. Es musste ein böser Kater sein. Seine Augen waren rot. Wenn er mit Rosenberg anfing, bedeutete das gewöhnlich einen ungemütlichen Verlauf des Seminars. Niemand meldete sich. Nash? Callahan ließ den Blick langsam und methodisch durch den Raum schweifen und wartete. Totenstille.
    Der Türknauf klickte laut und zerbrach die Spannung. Die Tür ging auf, und eine attraktive junge Frau in ausgewaschenen Jeans und einem Baumwollpullover schob sich rasch hindurch und glitt an der Wand entlang bis zur dritten Reihe, wo sie sich geschickt zwischen den dicht gedrängt sitzenden Studenten hindurchmanövrierte, bis sie ihren Platz erreicht hatte und sich setzte. Die Burschen in der vierten Reihe beobachteten sie bewundernd. Die Burschen in der fünften Reihe reckten die Hälse. Seit inzwischen zwei harten Jahren bestand eines der wenigen Vergnügen des Jurastudiums darin, zu beobachten, wie sie mit ihren langen Beinen und weiten Pullovern die Flure und Säle zierte. Sie waren ganz sicher, dass darunter eine prachtvolle Figur steckte, aber sie war keine von denen, die dergleichen zur Schau stellten. Sie gehörte einfach dazu und kleidete sich so, wie es unter Jurastudenten üblich war - Jeans, Flanellhemden, alte Pullover und übergroße Khakijacken. Was hätten sie nicht für einen Minirock aus schwarzem Leder gegeben!
    Sie lächelte den Mann neben ihr kurz an, und eine Sekunde lang waren Callahan und seine Fragen nach Nash vergessen. Das dunkelrote Haar reichte ihr gerade bis auf die Schultern. Sie war die perfekte kleine Cheerleaderin mit den vollkommenen Zähnen und dem vollkommenen Haar, in die sich jeder Junge auf der High School mindestens zweimal verliebte. Und mindestens einmal während des Jurastudiums.
    Callahan ignorierte ihr Eintreten. Wenn sie in ihrem ersten Studienjahr gewesen wäre und sich vor ihm gefürchtet hätte, dann hätte er sie vielleicht aufs Korn genommen und ein paar Mal gebrüllt. »Bei Gericht gibt es kein Zuspätkommen!« war eine alte Maxime, die andere Juraprofessoren längst zu Tode geprügelt hatten.
    Aber Callahan war nicht nach Brüllen zumute, und Darby Shaw fürchtete sich nicht vor ihm. Eine kurze Sekunde lang fragte er sich, ob jemand wusste, dass sie miteinander schliefen. Vermutlich nicht. Sie hatte auf absoluter Geheimhaltung bestanden.
    »Hat jemand Rosenbergs Minderheitsvotum in Nash gegen New Jersey gelesen?« Plötzlich stand er wieder im Rampenlicht, und es herrschte Totenstille. Eine hochgereckte Hand konnte dreißig Minuten pausenlosen Kreuzverhörs auslösen. Keine Freiwilligen. Die Raucher in der obersten Reihe zündeten sich ihre Zigaretten an. Die meisten der achtzig kritzelten irgend etwas auf ihre Blocks. Alle Köpfe waren gesenkt. Es wäre zu offensichtlich und zu riskant gewesen, im Verzeichnis der Gerichtsentscheidungen zu blättern und Nash zu suchen; dazu war es zu spät. Jede Bewegung konnte Aufmerksamkeit erregen. Irgendwer würde dran glauben müssen.
    Nash stand nicht im Verzeichnis. Es war einer von einem Dutzend unbedeutender Fälle, die Callahan eine Woche zuvor nebenbei erwähnt hatte; jetzt wollte er feststellen, ob irgend jemand ihn nachgelesen hatte. Dafür war er berühmt. Sein Abschlussexamen umfasste zwölfhundert Fälle, von denen tausend nicht im Verzeichnis standen. Das Examen war ein Alptraum, aber er war ein netter Kerl und ein milder Beurteiler, und wer bei ihm durchfiel, musste ein ziemlicher Blödmann sein.
    In diesem Moment schien er kein netter Kerl zu sein. Er sah sich im Saal um. Zeit für ein Opfer. »Was ist mit Ihnen, Mr. Sallinger? Können Sie uns Rosenbergs Minderheitsvotum
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