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Die Äbtissin

Die Äbtissin

Titel: Die Äbtissin
Autoren: Toti Lezea
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überschritt.
    Ihr Blick fiel auf die Hauswirtschafterin. Diese war ein Findelkind wie sie. Beide waren sie mit sechs oder sieben Jahren ins Kloster gekommen, sie waren gemeinsam aufgewachsen, gemeinsam hatten sie den Schleier genommen, und sie hatten sogar den gleichen Namen, fast das gleiche Alter und eine gewisse äußere Ähnlichkeit, über die sie manchmal lachen mussten. Aber während die Hauswirtschafterin ein sanftmütiges Wesen hatte und gut geeignet war, die Bücher zu führen, musste sie ständig mit sich ringen, um das Temperament zu zügeln, das in ihr schlummerte und das sie zu verbergen gelernt hatte. Wie oft hatte sie ihre Meinung für sich behalten? Wie oft hatte sie verschweigen müssen, was sie wirklich dachte? Die Disziplin, die Gebete, der Gehorsam hatten ihr einiges abverlangt. Hätte sie die Wahl gehabt, niemals wäre sie Nonne geworden. Doch was konnte eine Frau ohne Familie schon tun? Wohin hätte sie gehen sollen?
    Die Nonnen sahen sie ein wenig verwundert an. Ihr wurde bewusst, dass die Messe zu Ende war und sie den Segen erteilen musste. Spöttisch dachte sie, dass ihre arglosen Mitschwestern in ihrem schlichten Gemüt wahrscheinlich annahmen, dass sie zu sehr ins Gebet vertieft war. Nach dem Segen gab sie ihnen ein Zeichen, dass sie die Kapelle verlassen konnten. Sie wartete, bis alle gegangen waren, und sah zu, wie eine nach der anderen hinausging, genauso schweigsam, wie sie gekommen waren. Dann setzte sie sich wieder. Tag für Tag wiederholte sich die gleiche Zeremonie, die gleichen Gebete, die gleichen Gesten, der gleiche Tagesablauf… und genauso schweigsam, wie sie gelebt hatten, würden sie sterben und durch andere ersetzt werden. Alle gleich.
    Anders als in anderen Ordenshäusern befolgte man im Kloster Nuestra Señora de Gracia de las Agustinas de Madregal getreulich die Ordensregel des heiligen Augustinus: Gebet, Schweigen und Gehorsam. Hier gab es keine vornehmen, von Zofen umgebenen Damen, die nach Belieben ein- und ausgingen, als handelte es sich um eine Sommerfrische und nicht um ein Kloster. Nur gelegentlich akzeptierte man die Anwesenheit einer Dame aus dem Adel, die aufgrund ihrer Witwenschaft oder anderer Unbilden des Lebens darum bat, sich für kurze Zeit zurückziehen zu können, und dies immer auf Vermittlung des Königshauses, unter dessen Schirmherrschaft das Kloster stand.
    Bis zu ihrem Tod vor mittlerweile fünf Jahren hatte Ihre Katholische Hoheit Königin Isabella von Kastilien ein besonderes Interesse an der Klostergründung von Madrigal gezeigt.
    Eine seltsame Frau, diese Königin, dachte sie.
    Als sie der Königin zum ersten Mal begegnet war, hatte sie ihren stechenden Blick auf sich ruhen gespürt. Sie war erst zwölf Jahre alt gewesen. Anders als man ihr geraten hatte, hatte sie aufgeblickt und war dem eisblauen, schneidenden Blick Isabellas begegnet, der in Kontrast zu dem engelsgleichen Lächeln stand, das sie ihr schenkte.
    Die Königin kam gelegentlich nach Madrigal, wo sie im Palast ihres Vaters, König Johanns II. logierte. Dort war sie geboren und hatte lange Jahre ihrer Kindheit verbracht. Der Palast erhob sich stolz über dem kleinen kastilischen Ort, doch seit vielen Jahren lebte niemand mehr darin als ein paar Bedienstete. Die Vernachlässigung und vor allem die seltene Nutzung hatten sowohl an der Fassade als auch im Inneren ihre Spuren zu hinterlassen begonnen. Der einstmals wundervolle, blühende Garten hatte sich in ein dichtes Gestrüpp aus Unterholz und Unkraut verwandelt, das über die Mauern wucherte und in dem Schlangen und Maulwürfe hausten. Manchmal hieß es, dass Doña Isabella darüber nachdenke, den Palast wieder herrichten zu lassen und eines Tages an diesem herrlichen Ort zu residieren, der so viele Erinnerungen an ihre glückliche Kindheit in Gesellschaft ihrer Eltern und ihres Bruders barg. Doch neue Burgen und Paläste, zum höheren Ruhm des Königreiches errichtet, zögerten die Arbeiten immer wieder hinaus.
    Bei einem ihrer Besuche in Madrigal hatte die Königin den Wunsch geäußert, zwei der Novizinnen zu sehen, die beiden Marías, wie sie liebevoll von den Nonnen genannt wurden. Zunächst sie, weil sie die Ältere war.
    »Das ist also María?«, hatte sie an die Äbtissin gewandt gefragt.
    »So ist es, Euer Hoheit. María Esperanza, die Ältere«, hatte die Äbtissin im Flüsterton geantwortet.
    »Sie wirkt nicht sehr kräftig. Ist sie bei guter Gesundheit?«, hatte die Königin wissen wollen. »Leidet sie an Rachitis
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