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Die Äbtissin

Die Äbtissin

Titel: Die Äbtissin
Autoren: Toti Lezea
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damals war sie eine ältere Frau um die sechzig gewesen. María war zu Ohren gekommen, dass es mit ihrer Gesundheit nicht zum Besten bestellt war, und zweifelsohne musste der Grund ihrer Reise ein sehr gewichtiger sein, damit sie in einem Mauleselkarren über die staubigen Wege hierher kam. Sie betrat das Studierzimmer und schloss die Tür hinter sich; zurück blieb Joaquina, die vergeblich auf eine Gelegenheit hoffte, den Grund für einen so ungewöhnlichen Besuch zu erfahren. Doña Elvira stand am Fenster und betrachtete die Landschaft. Als sie die Äbtissin eintreten hörte, wandte sie sich um.
    Der Anblick ihrer Ordensoberin weckte nahezu töchterliche Gefühle in María. Sie war die erste Person gewesen, die sie liebevoll behandelt hatte, als sie nach Madrigal gekommen war, sie hatte sie getröstet, ihre Tränen getrocknet und war stets an ihrer Seite gewesen. Damals war sie noch nicht die Mutter Oberin gewesen, sondern Doña Elvira, die Äbtissin. Zwischen ihnen bestand eine ganz besondere Verbindung, und beide wussten darum. Von dem Moment an, als sich ihre Wege kreuzten, war María ihre Lieblingsschülerin gewesen. Sie hatte ihr das Lesen und Schreiben beigebracht, sie im Lateinischen unterwiesen und war unerbittlich gewesen, wenn es darum ging, die Tonleitern zu wiederholen, aber sie hatte ihr auch Geschichten von tapferen Kreuzfahrern erzählt und sie Verse wie jene gelehrt, die Juan Ruiz vor nahezu zweihundert Jahren verfasst hatte und die sie trotz der vielen Jahre, die seither vergangen waren, nicht vergessen hatte.
    Ach! Wie schön ist Doña Endrina, wenn sie über die Plaza schwebt!
    Welche Taille, welche Anmut, welch ein Schwanenhals! Welches Haar, welch ein Mündchen, welche Farbe, welche Glückseligkeit! Mit Pfeilen der Liebe trifft sie, wenn ihren Blick sie hebt.
    Sie umarmten sich und gedachten vergangener, vielleicht glücklicherer Zeiten, verloren in den Erinnerungen ihres Lebens.
    »Ich habe dich lange nicht gesehen, María Esperanza.«
    »Fünf Jahre, Doña Elvira.«
    »Fünf Jahre sind viel in meinem Alter. Vielleicht hätte ich dich nach Toledo mitnehmen sollen, doch du wurdest hier gebraucht, und die Pflicht geht vor dem Gefühl.«
    »Ich weiß, ehrwürdige Mutter«, antwortete María mit einem Lächeln. »Ich lernte es von Euch.«
    »Du hast mich nie enttäuscht«, fuhr die greise Frau mit müder Stimme fort. »Du warst meine beste Schülerin, und wie ich sehe, bist du es immer noch. Mir bleibt nicht mehr viel Zeit, meine Tochter…«
    »Aber Mutter…«
    »Wenn etwas gewiss ist auf dieser Welt«, unterbrach Doña Elvira sie, »dann, dass wir alle sie eines Tages verlassen müssen, und Gott sei Dank bin ich bereit. Entgegen der Empfehlungen Meister Pablos von Toledo, eines konvertierten Juden, ein guter Arzt zudem, der mir eindringlich von dieser Reise abriet, wollte ich herkommen, um dich zu sehen. Vor allem aber habe ich dir etwas Wichtiges mitzuteilen.«
    »Ich hätte nach Toledo kommen können.«
    »Und einer alten Frau ihr letztes Aufbegehren verwehren? Das wäre nicht sehr mildtätig gewesen.«
    Doña Elvira lachte herzlich. Es war eher das Lachen eines jungen Mädchens als das einer Greisin. María musste einfach mitlachen, und plötzlich war ihr der Anlass des Besuches gleichgültig, und auch, ob sie gute oder schlechte Nachrichten brachte. Diese Frau war unwiderstehlich, und nun merkte sie, wie sehr sie sie vermisst hatte.
    »Doch zurück zu dem, was ich zuvor sagte«, fuhr Doña Elvira in ernsterem Ton fort. »Uns widerfahren viele Dinge im Leben, für die wir keine Verantwortung tragen. Es gibt Menschen, die uns Schaden zufügen, ohne es zu wollen, und doch bestimmen ihre Taten den Lauf unseres Lebens, manchmal zum Guten und manchmal zum Schlechten. Unsere Pflicht als Christen und Ordensfrauen ist es, sie nicht zu verdammen, sondern ihnen von Herzen zu vergeben.«
    María verstand nicht, worauf Doña Elvira hinauswollte und was sie ihr mit diesen Worten zu sagen versuchte. Sie schwieg und wartete ab. Doña Elvira schien in Gedanken versunken, so als spräche sie mehr zu sich selbst als zu ihrer ehemaligen Schülerin.
    »Welche Erinnerungen hast du an deine Kindheit, María Esperanza?«, fragte sie plötzlich.
    Die Frage traf María unvorbereitet und sie zögerte einen Moment mit der Antwort.
    »An meine Kindheit? Ich erinnere mich an Euch«, antwortete sie. »Ich erinnere mich an Euren Trost und an Eure Güte… an den Klostergarten, die Blumen… die kalten Winter und die
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