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Die Äbtissin

Die Äbtissin

Titel: Die Äbtissin
Autoren: Toti Lezea
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Königin; allerdings hatte sie ihre Bildung und ihre Kenntnisse, auch des Lateinischen, erst erworben, als sie bereits auf dem kastilischen Thron saß. Es war allgemein bekannt, dass sich niemand sonderlich um die Erziehung des jungen Mädchens gekümmert hatte, denn damals hatte niemand damit gerechnet, dass die Halbwaise, die mit ihrer Mutter und ihrem jüngeren Bruder nach Arévalo verbannt worden war, eines Tages Königin werden könnte. Während Doña Isabella die Seiten umblätterte, verriet ihr Blick Bewunderung und Staunen angesichts dieser schön ausgeführten Linien, der regelmäßigen Schrift, der goldverzierten Miniaturen, der Fülle an Blumen und Pflanzen… Als sie die zentrale Illustration des Kodex erblickte, die sie gemeinsam mit ihrem Gemahl und den Kindern beim Gebet zeigte, flankiert von einigen einflussreichen Persönlichkeiten bei Hofe, konnte sie ihre Bewunderung nicht verbergen. Sie verweilte lange bei diesem Bild. Ihre Augen trübten sich und ihre Oberlippe bebte, als sie dort die Menschen vereint sah, die sie am meisten liebte: ihre Kinder.
    Da war Johann, ihr einziger Sohn und Erbe, der strahlendste Stern der Krone, verheiratet mit Margarete, der Tochter Maximilians von Österreich, für die er in solcher Liebe entbrannt war, dass er nicht auf die Ärzte hörte, die ihm aufgrund seines prekären Gesundheitszustands zur Enthaltsamkeit rieten. Sie hatten sogar eine vorübergehende Trennung empfohlen, doch Isabella hatte sich geweigert und bemerkt, dass der Mensch nicht scheiden solle, was Gott vereint habe. Der Infant war mit neunzehn Jahren an Erschöpfung gestorben. Seine Gemahlin hatte einen Knaben geboren, der nicht überlebte, und war dann in ihre Heimat zurückgekehrt. Dann Isabella, die zweimalige Königin von Portugal, war mit zwanzig Jahren bei der Geburt ihres ersten Sohnes Miguel gestorben. Der Knabe war ein Lichtstrahl inmitten des Unglücks gewesen, er sollte die Kronen von Kastilien, Aragón und Portugal erben, doch trotz der großen Fürsorge, die ihm seine Großeltern angedeihen ließen, erlebte er nicht das zweite Lebensjahr. Und dann Johanna – die arme Johanna! Die künftige Königin von Kastilien war geistig umnachtet, bis zum Wahnsinn in einen untreuen Ehemann verliebt, der sie, wie es hieß, demütigte und nach Belieben manipulierte. Und ihre Kleinen: María, die den Witwer ihrer Schwester, den König von Portugal, heiraten sollte, und Katharina, ihre liebe Katharina, vierzehn Jahre alt, die wie ihre Schwestern aus politischen Gründen versprochen war – dem englischen Thronfolger Arthur – und bald weit weg sein würde.
    Ihre Augen glänzten feucht, aber es kamen keine Tränen. Eine Königin zeigte niemals in der Öffentlichkeit ihre Gefühle. Das hatte sie bereits in sehr jungen Jahren gelernt, als sie nach dem Tod ihres Vaters gezwungen gewesen war, zurückgezogen in Arévalo zu leben und sich um ihre wahnsinnige Mutter und ihren kleinen Bruder Alfons zu kümmern. Ihr Halbbruder Heinrich, der Vierte seines Namens, hatte die zweite Familie seines Vaters nicht bei Hofe haben wollen. Wie lange lagen die Zeiten zurück, als niemand daran dachte, dass eines Tages sie auf dem kastilischen Thron sitzen würde!
    »Wer hat diese wundervolle Arbeit angefertigt?«, fragte sie, an die Äbtissin gewandt.
    »Das war Schwester María Esperanza, Euer Hoheit.«
    Die Äbtissin konnte ihre Zufriedenheit nicht verbergen.
    Das Geschenk hatte das Gefallen der Königin gefunden! Doña Isabella richtete ihre Augen auf die junge Nonne, die immer noch reglos zu ihren Füßen kniete und auf ein Zeichen wartete, um sich zu erheben.
    »Es ist eine Arbeit, die der besten Kopisten würdig ist. Sie gefällt Uns außerordentlich und Wir beglückwünschen sie.«
    Bewegt und – weshalb es verhehlen? – stolz auf sich selbst sah sie auf. Sie stand im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, ihre Mühe wurde gewürdigt und die Königin richtete das Wort an sie. Der Anflug eines Lächelns erschien auf ihren Lippen, erstarb jedoch sofort wieder. Das Gesicht der Königin hatte sich verändert, als diese sie eingehender betrachtete, sie runzelte die Stirn und schaute María kalt an.
    »Sie ist diejenige, die man María die Ältere nennt, nicht wahr?« Der Ton der Königin war hart geworden. »Wie Wir sehen, geht die Erziehung, die sie erhalten hat, weit über das hinaus, was bei einer Waise ohne Herkunft zu erwarten wäre.«
    Weshalb hatte sie in diesem Ton zu ihr gesprochen? Weshalb wurde sie vor den übrigen
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