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Die Abrechnung: Ein Neonazi steigt aus

Die Abrechnung: Ein Neonazi steigt aus

Titel: Die Abrechnung: Ein Neonazi steigt aus
Autoren: Ingo Hasselbach , Winfried Bonengel
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Erholung. Im August 1987 wurde ich m die Haftanstalt Rüdersdorf bei Berlin verlegt.
    In Rüdersdorf mußte ich zusammen mit ungefähr zweihundert anderen Gefangenen im Zementwerk arbeiten. Wir wurden dabei von Posten bewacht, die um uns herum eine Kette bildeten. Nach ein paar Wochen bekam ich die sogenannte Zementkrätze, meine Haut war mit Pickeln übersät. Dort gab es keinerlei Möglichkeiten, diese Allergie wirksam zu behandeln. Der Arzt in der Haftanstalt riet mir: »Sie brauchen viel Sonne und Strandluft.« Er grinste mich ziemlich dämlich an.
    Zusammen mit acht weiteren Gefangenen mußte ich als politischer Häftling regelmäßig an ideologischen Schulungen teilnehmen, um die »Vorzüge des Sozialismus« endlich zu begreifen. Zu Erich Honeckers fünfundsiebzigstem Geburtstag und dessen bevorstehender Reise in die Bundesrepublik sollte ich einen Vortrag ausarbeiten. Ich schrieb Honecker einen Brief, in dem ich ihm auf das herzlichste zum Geburtstag gratulierte und die umfassenden Errungenschaften des Sozialismus ganz besonders hervorhob. Außerdem schlug ich ihm vor, auf seiner BRD-Reise endlich ein paar Erleichterungen für das Wohl des Volkes zu beschließen, wie Reisefreiheit, Meinungsfreiheit, Abschaffung der Bespitzelung durch die Stasi und die Freiheit, ein eigenes Unternehmen zu gründen. Ich unterschrieb den Brief: »Mit den besten Grüßen. Ihre Strafgefangenen aus der Strafvollzugseinrichtung Rüdersdorf.« Kaum hatte ich den Brief beim Erzieher in den Briefkasten geworfen, wurde ich zu ihm gerufen. Es folgte eine gewaltige Standpauke, und ich mußte nicht mehr am politischen Unterricht teilnehmen.
    Der Tagesablauf In Rüdersdorf war sehr monoton. Um halb drei Uhr morgens wurden wir geweckt, und eine Stunde später war Zählung der Gefangenen. Um vier Uhr fuhren wir zur Arbeit. Nachmittags um drei Uhr wurden wir zurück ins Lager gebracht. Danach mußten wir bis sechs Uhr kleinere Aufräumarbeiten erledigen. Um sieben Uhr abends war wieder Zählung, und dann begann die Nachtruhe. Sich diesem völlig veränderten Lebensrhythmus ohne Abende anzupassen, fiel allen Gefangenen sehr schwer.
    Über einen eigenen Namen verfügte keiner mehr von uns. Ich mußte mich daran gewöhnen, die Nummer 43 00 64 zu sein. Freundschaften gab es im Knast nicht, und in meiner Neun-Mann-Zelle wollte einer den anderen nur ausnutzen. Ich zeigte den anderen Gefangenen keinerlei Gefühle oder die geringsten Schwächen, denn ich konnte niemandem trauen und hatte es mehrere Male erlebt, wie jüngere Häftlinge, nachdem sie Älteren ihr Leid offenbart hatten, anschließend von denen sexuell mißbraucht wurden. Jeder war sich selbst der Nächste und mußte sich jeden Tag im Knast neu bewähren.
    Ich glaube, daß diese Eigenschaften, im Knast angeeignet, für das spätere Leben in der Neonaziszene geradezu ideal sind. Für viele junge Menschen ist der Knast nicht nur ein fruchtbarer Boden für die Aufnahme des Gedankenguts der Nazis, das ihnen durch ältere Mitgefangene übermittelt wird, er ist auch eine Art Charakterschule, welche auf die Existenz in einer Gemeinschaft ohne Skrupel vorbereitet.
    Du, Hans, bist nicht nur mein leiblicher Vater, Du warst auch ein höherer Funktionär und sehr viel mit dem Denken der Leute beschäftigt, wie man sie überzeugen und im sozialistischen Sinne beeinflussen könnte. Der anwachsende Rechtsradikalismus in den letzten Jahren der DDR kann Dir nicht verborgen geblieben sein. Ich frage mich, ob Ihr in Eurer Partei zum Beispiel auch mal über solche Zusammenhänge von Knast und Neonazis nachgedacht habt. Oder war das nicht Euer Problem, habt Ihr Euch selbst beruhigt und alles den dafür Verantwortlichen überlassen, »die es schon machen würden« ?

Wieder in Freiheit, was nun?
    Nach achtmonatiger Haftzeit wurde ich am 19. Oktober 1987 aus Rüdersdorf nach Hause entlassen. Was war mein Zuhause? Meine Frau Christine wohnte noch immer bei ihrem neuen Freund, also ging ich noch am gleichen Tag zu meiner Mutter. Dort aß ich zu Mittag und badete anschließend. Am Nachmittag mußte ich zur Polizei, um mich anzumelden. Auf der Polizeiwache traf ich Freddy, der am selben Tag entlassen worden war. Wir gingen sofort ein paar Bier trinken, und noch am Abend nahm uns die Polizei auf einem U-Bahnhof fest. Wir wurden in eine Ausnüchterungszelle gebracht, in der wir die ganze Nacht zubringen mußten. Am nächsten Morgen ließ man uns wieder laufen. Die folgenden Tage verbrachten wir bei einem Bekannten, der
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