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Die 500 (German Edition)

Die 500 (German Edition)

Titel: Die 500 (German Edition)
Autoren: Matthew Quirk
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aufmachte, wurde es sofort still. Seine Studenten bemühten sich allerdings verzweifelt, gehört und vom Meister wahrgenommen zu werden. Jeder hatte sich eine Antwort auf Davies’ Frage zurechtgelegt. Das richtige Timing in einem Seminar ist eine Kunst: Wann lässt man die anderen plappern, wann schaltet man sich ein? Es ist wie beim Boxen oder … vielleicht wie beim Fechten, Squash oder bei einer der anderen Freizeitvergnügungen dieser Ivy-League-Typen.
    Der Bursche, der immer als Erster vorpreschte und nie etwas Substanzielles zu sagen hatte, ließ sich über die Mlada Bosna aus, bis ihm Davies’ Blick Angst einjagte. Er fing an zu nuscheln. Die anderen rochen sofort Schwäche und fielen in beißwütigem Palaver übereinander her, wobei es um Großserbien gegen die Südslawen, Bosnisch gegen Bosniakisch, den Irredentismus der Serben und den Two-Power-Standard ging.
    Ich staunte ehrfürchtig. Das lag nicht nur an den Fakten, die sie angehäuft hatten (einige von den Burschen schienen buchstäblich alles zu wissen; nie hatte ich es geschafft, einen auf dem falschen Fuß zu erwischen). Es lag an ihrem Auftreten. In jeder Bewegung konnte man ihren Status erkennen: als wären sie als Babys in den Arbeitszimmern ihrer Väter herumgekrabbelt, während die, Single Malts schwenkend, das Schicksal der Nationen debattierten; als hätten sie die letzten fünfundzwanzig Jahre ihre Zeit damit totgeschlagen, Diplomatiegeschichte zu büffeln, bis ihre Daddys genug davon haben, die Geschicke der Welt zu lenken, und sie ans Ruder lassen würden. Sie waren einfach so … so gottverdammt ehrbar. Normalerweise beobachtete ich sie gern, liebte den kleinen Brückenkopf zu ihrer Welt, den ich mir hatte erobern können, liebte den Gedanken, dass ich es schließlich so weit bringen könnte, als einer von ihnen durchzugehen.
    Aber nicht heute. Ich steckte in Schwierigkeiten. Ich konnte dem Hin und Her, den Argumenten und Gegenargumenten nicht folgen, ganz zu schweigen davon, dass ich sie ausstechen konnte. An meinen guten Tagen hatte ich eine Chance. Aber jedes Mal, wenn ich über die Mikropolitik auf dem Balkan von vor hundert Jahren nachzudenken versuchte, sah ich nur eine Zahl, die groß und rot und grell vor mir aufleuchtete. Das war das Einzige, was in meinem Notizbuch stand: $ 83 359, unterstrichen, mit einem Kreis drumherum, gefolgt von anderen Zahlen: 43 23 65.
    Ich hatte die Nacht zuvor nicht geschlafen. Nach der Arbeit – ich war Barkeeper in einem Schicki-Laden namens Barley – ging ich mit zu Kendra, die auch in der Bar arbeitete. Ich dachte, auf ihren Komm-fick-mich-Blick Taten folgen zu las sen würde mir besser bekommen als die neunzig Minuten, die ich vielleicht schlafen könnte, bevor ich wieder aufstehen musste, um zwölfhundert dicht bedruckte Seiten IB-Theorie zu lesen. Sie hatte schwarzes Haar, in dem man ertrinken konnte, und eine Figur, die zu lüsternen Gedanken einlud. Aber die entscheidende Verlockung war vielleicht die, dass kellnernde Mädchen, die Kendra hießen und dir im Bett nicht in die Augen schauten, das genaue Gegenteil von allem waren, was zu wollen ich mir einbildete.
    Gegen sieben an jenem Morgen kam ich nach Hause. Ich wusste, dass irgendwas in der Luft lag, als ich auf dem Gehweg den vergammelten alten Fernsehsessel von meinem Vater und auf der Treppe ein paar von meinen T-Shirts liegen sah. Die Tür zu meiner Wohnung war aufgebrochen, und zwar nicht auf die saubere Art. Es sah aus, als hätte sich ein bösartiger Schwarzbär daran zu schaffen gemacht. Verluste: mein Bett und die meisten meiner Möbel, die Lampen und die kleinen Küchengeräte. Meine Sachen waren überall verstreut.
    Die Leute durchforsteten meinen Krempel auf dem Gehweg, als handelte es sich um die Gratisreste am Ende eines Hofflohmarkts. Ich scheuchte sie weg und klaubte zusammen, was noch übrig war. Der Fernsehsessel war nicht in Gefahr. Er wog so viel wie ein Kombi, und es hätte ernsthafte Planung und zwei kräftige Burschen erfordert, um ihn wegzuschaffen.
    Als ich die Wohnung aufräumte, fiel mir auf, dass den Jungs von Crenshaws Inkassobüro der Wert von Thukydides’ Der Peloponnesische Krieg und des zehn Zentimeter dicken Lektürestapels, der in zwei Stunden Seminarthema sein würde, entgangen war. Auf dem Küchentisch hatten sie mir einen kleinen Liebesbrief hinterlassen: »Abtransportierte Möbel = Abschlagszahlung. Restbetrag: $ 83 359.« Rest? Pest! So weit kannte ich mich mit den Gesetzen schon aus, dass mir auf
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