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Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur

Titel: Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur
Autoren: Oliver Jahraus
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die absolute und konsequente Rächerin. Als der Hunnenkönig Etzel um sie werben lässt, ahnt sie ihre Chance. Kriemhild heiratet also Etzel und setzt ihren Plan um. Die Burgunder, auch Nibelungen genannt, werden eingeladen, damit Kriemhild nach langer Zeit ihre Verwandten wiedersieht. Nur Hagen ahnt die List. Am Hunnenhof kommt es zum Gemetzel, in dem Burgunder und Hunnen gleichermaßen sterben. Die Mordmaschinerie ist durch nichts aufzuhalten. Das schlimmstmögliche Ende ist eingetreten.
    Das Nibelungenlied ist historisch und literarisch. Einerseits werden im Nibelungenlied historische Erfahrungen aus der Zeit ein halbes Jahrtausend zuvor verarbeitet, andererseits ermöglicht dieser Text einen erzählerischen Spielraum, der neu und regelrecht skandalös ist. Dieser Text ist keine Heldendichtung, der es darum geht, eine bestehende politische und moralische Ordnung zu bestätigen, sondern im Gegenteil darum vorzuführen, wie eine solche mit Stumpf und Stiel zerstört werden kann. Und das macht das Nibelungenlied heute noch so interessant: im Medium von Literatur Möglichkeiten auszuloten und Konsequenzen radikal auszubuchstabieren, die am extremen Rand menschlicher, politischer oder moralischer Möglichkeiten liegen.
    8. Wer, wie, wo, was und wann ist der Gral? «Das Mittelalter kennt drei sprichwörtlich gewordene Dingsymbole», schreibt Volker Mertens in seinem wunderbaren Gralsbuch: «den Nibelungenhort, den Liebestrank, den Gral. Ersterer steht für politische Macht, derTrank für die Liebe und – der Gral?» Im Jahr 2003 landete der amerikanische Beststeller-Autor Dan Brown mit seinem Roman
The Da Vinci Code
, übersetzt ins Deutsche unter dem Titel
Sakrileg
2004, einen Welterfolg. Er hat damit nicht nur gezeigt, wie langlebig und wie produktiv der Gralsmythos als Stofflieferant für Literatur und Film ist, er hat darüber hinaus auch noch eine neue Variante der Gralskonzeption, eine neue Deutung des Gralssymbols vorgelegt. Die Pointe seiner Geschichte besteht darin, den Gral nicht als Gefäß oder Ding zu betrachten, sondern als Symbol für eine Frau, Maria Magdalena, mit der Jesus Christus verheiratet gewesen sei und mit der er eine gemeinsame Tochter gehabt habe.
    Man kann aus dieser Pointe etwas über das Funktionieren von Symbolen und über ihre Bedeutung als Stoffe für Literatur lernen. Der Gral erscheint dabei immer in einer doppelten Weise: Zum einen unterstellt man ihm einen Dingcharakter und kann daher fragen: Was ist der Gral und wo befindet er sich? Zum anderen aber ist das Ding, wie immer es ausschauen mag, nur der Träger seiner Bedeutung. Der Gral ist etwas, das dem Leben der Menschen Bedeutung verleiht, und da die Bedeutung abstrakt ist, suchen sie nach dem Ding, an dem die Bedeutung festgemacht wird. Damit ist, kurz gesagt, eines der wichtigsten und wirkmächtigsten Bauprinzipien von Geschichten benannt. Man spricht hierbei von einer Queste, einer Suche und Suchbewegung, die den Weg eines Helden ausmacht und strukturiert. Und das mag ein wesentlicher Grund sein, warum Gralsgeschichten auch heute noch in der Lage sind, Menschen anzuziehen.
    Für die deutsche Literatur ist die Verbindung von Gralsgeschichte und Figur des Parzival entscheidend, und der Gründungstext ist der mittelhochdeutsche Versroman von Wolfram von Eschenbach (der ab 1160 und vermutlich bis 1220 gelebt haben dürfte) mit dem Titel
Parzival
, der vermutlich im ersten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts entstanden ist. Aber auch dieser Text hat wiederum einen Vorläufer in einem französischen Text, nämlich dem Roman
Perceval le Gallois ou Le Conte du Graal
von Chrétien de Troyes, der zwei Jahrzehnte früher entstanden sein muss. Wolframs Roman erzählt die Geschichte Parzivals als Geschichte einer männlichen Sozialisation. Parzival muss Erfahrungen sammeln und aus Fehlern lernen, muss Empathie entwickeln und sich in eine größere Ordnung einfügen können. Parzival ist der sich entwickelnde Held.
    Hier wird aber schon deutlich, was Brown vielleicht übersehen hat. Entscheidend ist die Tatsache, dass der Gral in einem Ritual erscheint. Der Gral ist nicht so sehr Ding als Ritual, und deswegen schlägt uns Volker Mertes die Frage vor: «Wie ist der Gral?» Daher ist Browns Roman nicht so modern, wie man zunächst denken mag, weil er uns nur eine Variante der dinghaften Identifizierung des Grals liefert. Es gibt gute Gründe, Wolframs Text für moderner zu halten. Denn der Gral ist ein Prozess, ein Prozess der Suche. Parzival wäre
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