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Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur

Titel: Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur
Autoren: Oliver Jahraus
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beginnen, das Tristan und Isolde nach Cornwall zurückbringt. Weil Isolde dieser Situation nicht gewachsen ist, in der sie den einen Mann lieben, den anderen ehelichen muss, will sie mit Hilfe eines Todestrankes mit Tristan einen erweiterten Suizid begehen. Brangäne, die Vertraute, vertauscht den Trank mit einem Liebestrank. Beide sinken sich in Liebesleidenschaft in die Arme. Die Affäre lässt sich dann vor Marke nicht mehr geheim halten. Tristan begibt sich ins Exil und ist tödlich getroffen. Nur Isolde kann ihn retten. Er fiebert dem verlorenen Liebesglück nach und verflucht den Liebestrank. Ein Schiff kommt an, das Isolde bringt. Es ist zu spät, und Tristan stirbt in Isoldes Armen.
    Man macht es sich wohl zu einfach, wenn man dem Liebestrank im mittelalterlichen Text eine magische Funktion zuschreibt, im Text des 19. Jahrhunderts in ihm lediglich ein psychologisches Symbol erblickt, das nur äußerlich verdeutlicht, was schon längst im Inneren der Figuren geschehen ist: der Fall in die Liebe (wie der Engländer so schön sagt). Vielleicht würde man dabei auch mit zweierlei Maß messen. Im 19. Jahrhundert eine Ehebruchsgeschichte zu erzählenwar wohl en vogue. Anders stellt es sich bei Gottfried dar: Dass eine Liebe mehr als die Ehe gilt, dass Liebe als alle Normen sprengende Kraft dargestellt und gefeiert wird, ist neu.
    7. Hat der Untergang Spielregeln? Der Untergang führt in die Katastrophe, in die Zerstörung der sozialen Ordnung, ins Regellose. Kann ein Untergang Regeln haben? Ja, und das beweist das
Nibelungenlied
. Es wird damit zu einem Dokument der Literatur, das aufzeigt, dass sich Literatur nicht nur mit der sozialen Verfasstheit der Welt, in der die Menschen leben, auseinandersetzt, sondern die Bedingungen sozialer Ordnung insofern austestet, indem sie die Ordnung einer Zerstörung unterwirft, die ihrerseits wiederum ästhetisch erfahren werden kann.
    Im Jahr 2009 hat die UNESCO die drei wichtigsten Dokumente, auf denen das Nibelungenlied überliefert wurde, zum Weltdokumentenerbe erklärt. Damit hat ein sehr alter und sehr bekannter Text der deutschen Literatur auch eine geradezu politische Anerkennung gefunden, der das Gegenteil von dem erzählt, für das die UNO steht: für einen blutrünstigen Krieg ohne jede Gnade, ohne jede Regel. Und es vollziehen sich dieser Krieg und der von ihm hervorgerufene Untergang so folgerichtig, dass es wert ist, nach den Regeln dieses Untergangs zu fragen, wie dies auch der Mediävist Jan-Dirk Müller getan hat, der sein Buch über das Nibelungenlied «Regeln für den Untergang» nennt.
    Der Autor des
Nibelungenlieds
ist unbekannt, vermutlich ein Passauer Kleriker; ein Originaltext, entstanden wahrscheinlich um 1204, ist nicht mehr vorhanden, wohl aber eine ganze Reihe von Abschriften. Die drei wichtigsten Handschriften – es gibt wohl über 35 – unterscheidet man danach, wie sie enden. Keine davon dokumentiert das Original. Zwei von ihnen enden mit dem Vers «daz ist der Nibelunge not», eine davon endet mit dem Vers «daz ist der Nibelunge liet». «Not» hat man gemeinhin mit Untergang übersetzt, «liet» mit Epos. Das
Nibelungenlied
ist also ein Epos des Untergangs. Und tatsächlich, kaum ein Text der Weltliteratur erzählt eine Geschichte, die in jeder Hinsicht so unausweichlich katastrophisch und so vehement destruktiv verläuft, kaum ein Text verwendet so viel Mühe, um den Weg zum Untergang seinem Leser derart anschaulich zu machen. Und der Untergang ist wahrhaft endzeitlich: Im Grunde genommen überlebt keine der beteiligten Figuren die Kämpfe, oderbesser gesagt: die Gemetzel, die ausbrechen, weil man einer Frau den Mann raubt und diese Frau in einer Weise Rache übt, dass daraus immer neue Mordtaten resultieren.
    Das
Nibelungenlied
ist zweigeteilt. In der ersten Hälfte wird erzählt, wie Siegfried in Worms Kriemhild erobert und wie er deswegen Gunther, dem König und zugleich Bruder Kriemhilds, hilft, Brünnhilde zu erobern. Auslöser der Katastrophe ist ein Streit der Frauen. Kriemhild will gegenüber Brünnhilde als gleichberechtigt behandelt werden, was diese – als Frau des Königs – verweigert. Da Kriemhild von Siegfrieds List weiß, kann sie Brünnhilde öffentlich demütigen. Hagen, der Gefolgsmann Gunthers und der treue Handlager Brünnhildes, rächt diese Demütigung. Er tötet Siegfried auf der Jagd, weil er seine verwundbare Stelle kennt. Die Leiche legt er vor Kriemhilds Tür.
    Im zweiten Teil wird aus der lieblichen Prinzessin
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