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Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur

Titel: Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur
Autoren: Oliver Jahraus
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Roman,
Könige über dem Ozean
, aus dem Jahr 1989 interessiert sich Krausser für die Nachtseiten der menschlichen Psyche. Er steht damit in einer romantischen Tradition, deren Erzählelemente er aufgreift und äußerst innovativ und produktiv in seinen Geschichten verwendet. Sein großer Durchbruch kam 1993 mit dem Erfolg des Romans
Melodien
, der auf zwei Zeitebenen die erfolgreiche Suche eines Zauberers nach den absoluten Melodien, mit denen man die Menschen emotional beherrschen kann, und die Versuche in der Gegenwart des Romans, sie wiederzuentdecken, schildert. Musik, Doppelgängertum, Leidenschaft, Liebe, Sex und Tod sind die Themen, die Helmut Kraussers Werk durchziehen. Musik wird dabei grundsätzlich zum Modell, die pathetischen Potenziale von Kunst zu reflektieren. Und Pathos meint dabei eine sowohl formal als auch inhaltlich bestimmte Wirkdisposition, die Texte auf ihre Rezipienten ausüben können. Damit geht eine Aufwertung des Künstlers einher, die zugleich zu seinem eigenen schriftstellerischen Selbstverständnis beiträgt. Helmut Krausser verfolgt dabei ein ebenso pathetisches wie emphatisches Konzept des Künstlers, das er auch für sich in Anspruch nimmt.
    Im Jahr 2003 veröffentlicht Helmut Krausser seinen Roman
UC
, in dem er all diese Elemente in bislang nicht da gewesener Form verdichtet und damit nicht nur einen Höhepunkt innerhalb seiner Werkgenese erreicht, sondern auch ein markantes Beispiel für die wiederentdeckten narrativen Möglichkeiten (in) der Gegenwartsliteratur gibt. Der Roman erzählt zunächst die Geschichte des ebenso genialen wie arroganten, des ebenso sexbesessenen wie reichen Stardirigenten Arndt Hermannstein. Dieser Mann wird eines Tages lose verdächtigt, Jahre zuvor eine Schulkameradin vergewaltigt und getötetzu haben. In dieser Situation rät ihm eine Freundin, den Vortrag des Schriftstellers Sam Kurthes (ein fast vollständiges Anagramm von Helmut Krausser) zu besuchen. Beide kommen in immer engeren Kontakt miteinander, und Sam Kurthes erweist sich allmählich als geheimnis- und machtvolle Figur. Zudem schreibt er ein Buch über einen Dirigenten, der Arndt Hermannstein nachempfunden ist und der Arndt-Hermann Stein heißen soll. Nun ist aber auch Sam Kurthes die Figur eines Autors, und so ist zu fragen, welche Instanz denn für Sam Kurthes die Funktion einnimmt, die er selbst für Arndt Hermannstein/Arndt-Hermann Stein einnimmt. Wer macht ihn zu einer literarischen Figur? Das ist die reizende Idee des Romans, die formal komplex ist, aber die narrativ in einer unglaublich spannenden Geschichte umgesetzt wird. Eine solche Instanz könnte Gott sein, und tatsächlich stellt Kurthes die Frage nach dieser Instanz: «Sag mir, wie ich dich nennen soll.» Und er bekommt als Antwort: «Helmut.» Natürlich ist das ein Verweis auf den Autor. Und Helmut Krausser versucht, diese Idee in seinen Tagebüchern zu relativieren, indem er eine Analogie bemüht. Natürlich verhalte sich ein Autor zu seinen Figuren wie Gott zu den Menschen. Aber so harmlos ist es nicht: Denn damit wird ein literarisches Phantasma, ein Modell der schriftstellerischen Selbstverständigung geschaffen, das den Autor – wie schon in bestimmten Ausprägungen der Romantik – als Gott imaginiert. Das ist sicherlich eine reizvolle Idee – und mehr. Es ist ein Beweis, wozu Literatur auch noch in der Lage ist.

Erwähnte Literatur
    Ariès, Philipp: Geschichte des Todes. München 1980.
    Bertaux, Pierre: Friedrich Hölderlin. Eine Biographie. Frankfurt a. M. 1974.
    Bronfen, Elisabeth: Nachwort. In: dies. (Hg.): Die schöne Seele. Entdeckung der Weiblichkeit um 1800. München 1992, S. 372–416.
    Campe, Rüdiger: Konversation, poetische Form und der Staat. In: David E. Wellbery u.a. (Hgg.): Eine neue Geschichte der deutschen Literatur. Berlin 2007, S. 370–377.
    Eibl, Karl: Das monumentale Ich – Wege zu Goethes ‹Faust›. Frankfurt a. M. 2000.
    Fest, Joachim C.: Die unwissenden Magier. Über Thomas und Heinrich Mann. Berlin 1985.
    Greiner, Martin: Die Entstehung der modernen Unterhaltungsliteratur. Studien zur Entstehung des Trivialromans. Reinbek b. Hamburg 1964.
    Jäger, Georg: Die Leiden des alten und neuen Werther. Kommentare, Abbildungen, Materialien. München/Wien 1984 (= Hansers Literatur-Kommentare 21).
    Jaumann, Herbert: Nachwort. In: Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey. Studienausgabe. Hg. v. Herbert Jaumann. Stuttgart 2006, S. 191–213.
    Kiermeier-Debre, Joseph u. Fritz Franz Vogel (Hgg.):
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