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Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur

Titel: Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur
Autoren: Oliver Jahraus
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Kritikerin sein.
    100. Warum beschimpft Thomas Bernhard Österreich? Der Begriff ‹Hassliebe› beschreibt das Verhältnis von Thomas Bernhard (1931–1989) zu Österreich ganz gut und reicht doch bei weitem nicht aus. Kaum ein Autor war so obsessiv auf sein Heimatland bezogen wie Bernhard, kein Autor hat sein Land in Interviews und anderen Texten, zum Beispiel Preisreden, so mit Hass überzogen wie Bernhard, und gleichzeitig spürt man bei ihm wie bei kaum einem anderen Autor, dass er von Österreich nicht loskommen konnte. Insofern muss man sich davor hüten, Thomas Bernhards Invektiven gegen Österreich und das Österreichische als Ausdruck einer persönlichen Antipathie abzutun oder in ihnen nur den Wunsch nach werbeträchtiger Provokation von Aufmerksamkeit zu sehen. Vielmehr ist diese Hassliebe selbst auf ein schriftstellerisches Prinzip zurückzuführen.
    Vielleicht kann man sich diese Konstellation am letzten großen Text Bernhards, der zu seinen Lebzeiten ‹veröffentlicht› wurde, deutlich machen – nicht obwohl, sondern gerade weil dort das Provokationspotenzial sehr deutlich ausgeprägt ist. Auf Veranlassung des damaligen Burgtheaterdirektors Claus Peymann, mit dem Thomas Bernhard in Theaterprojekten immer wieder zusammengearbeitethatte, hat Thomas Bernhard zur Hundertjahrfeier des Wiener Burgtheaters im Jahr 1988 sein letztes Drama
Heldenplatz
geschrieben. Es wurde am 4. November 1988 uraufgeführt und löste schon vor seiner Uraufführung einen veritablen Theaterskandal aus. Zitate, die aus dem Zusammenhang gerissen oder falsch wiedergegeben waren, machten die Runde und bewiesen angeblich, wie böse Thomas Bernhard auf Österreich schimpft. Thomas Bernhard war bei der Uraufführung anwesend, aber schon stark von seiner Lungenkrankheit gezeichnet. Er starb bald darauf am 12. Februar 1989.
    Das Stück erzählt von der Trauerfeierlichkeit nach dem Selbstmord des Wiener Professors Josef Schuster, der nach Oxford, wo er schon während der Nazizeit im Exil war, umziehen wollte, weil er es im politischen Klima Österreichs nicht mehr aushalten konnte. Das Stück spielt in der Gegenwart seiner Aufführung, also 1988. In drei Szenen unterhalten sich die Angestellten, sodann seine Töchter und sein Bruder, Professor Robert Schuster, und schließlich bei einem Leichenschmaus die Familie mit Gästen, unter anderem auch die Witwe und ihr Sohn, über den Verstorbenen, seinen Selbstmord, seine Gründe und über die Situation in Österreich. Österreich sei nach wie vor entweder nationalsozialistisch oder katholisch. Am Ende des Dramas hört das Publikum das, was die Witwe Schuster nur in ihrem Inneren hört: das Jubelgeschrei über den ‹Anschluss› vom Heldenplatz herauf. Nichts habe sich also in den 50 Jahren seit dem Anschluss geändert. Das Jubelgeschrei wird immer lauter, Frau Schuster bricht tot zusammen. Das Stück ist zu Ende.
    101. Warum will ein Autor Gott werden? Eine Literaturgeschichte der Gegenwart zu schreiben ist eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit, weil Gegenwart das Gegenteil von Geschichte ist. Man kann nur Tendenzen beobachten. So hat die Literaturkritik nach der Wende die Erwartung nach dem großen Wende-Roman geweckt und dabei vielleicht die vielen Wende-Romane übersehen. So hat die Literaturkritik zu bestimmten Zeiten darüber geklagt, dass das Erzählen zu sehr in den Hintergrund gedrängt worden sei, was den Blick für jene Texte schärft, die wieder die Lust am Fabulieren feiern. Ein Autor, der mit jedem seiner Texte das Fabulieren auf grandiose Weise feiert, war Herbert Rosendorfer (1934–2012).
    Gleichermaßen muss Literatur auf veränderte Kontexte reagieren, insbesondere auf ein sich schnell veränderndes Feld von Medienkonkurrenz,indem sie entweder – mehr oder weniger erfolgreich – ihre Form verändert (Beispiel: Netzliteratur) oder ihre Medienträger (Literatur im Netz, elektronische Bücher) oder ihre Distributionsmedien (Literatur im Fernsehen). Damit hängt auch immer die Selbsteinschätzung der Literatur zusammen: Welche Funktion und welche Bedeutung spricht die Literatur sich selbst zu? Ein herausragendes Beispiel, wie die Lust am Erzählen neu inszeniert, aber gleichzeitig die Reaktualisierung literarhistorischer Probleme beständig produktiv genutzt werden kann und wie daraus ein völlig neues und in ihrem Selbstbewusstsein nicht mehr zu übertreffendes Selbstverständnis der Literatur resultieren kann, liefert Helmut Krausser (geb. 1964).
    Seit seinem ersten
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