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Die 10. Symphonie

Die 10. Symphonie

Titel: Die 10. Symphonie
Autoren: Joseph Gelinek
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Veranstaltungssaal. Meine Frau kennt den Vortrag ohnehin schon in- und auswendig. « Drei Stunden später war alles vorbei. Der Moderator hatte die Fragerunde eröffnet, an der sich die Anwesenden zur Abwechslung einmal lebhaft beteiligten. Ein junger Mann wollte wissen, ob es einen eindeutigen Beweis dafür gebe, dass der Kaiser auf St. Helena ermordet wurde. »Natürlich keinen gerichtsmedizinischen«, antwortete der Prinz. »Sie müssen bedenken, dass der Onkel meines Ururgroßvaters 1821 starb. Erst 1836 entwickelte der Chemiker James Marsh einen Test, mit Hilfe dessen man noch Jahre nach dem Tod die kleinste Spur Arsen an einer Leiche nachweisen kann.«
    »Vergiftet ... Aber von wem denn?«, fragte eine ältere Frau. »Wen verdächtigen Sie?«
    »Den Gouverneur der Insel natürlich. Obwohl er ein Mann war. Ich betone das, weil meistens ja eher die Frauen als Giftmischerinnen gelten.« Ein paar der Anwesenden lachten.
    »Wobei die Erwähnung eigentlich überflüssig ist«, fuhr er fort. »Selbst heute fällt es schwer, sich eine Frau an der Spitze einer Militärgarnison vorzustellen, doch damals war es undenkbar.«
    »Von den Engländern vergiftet! Haben Sie irgendeinen Beweis dafür?«, fragte ein Herr mit großen Ohren und einem unverkennbar britischen Akzent. »Nein. Doch als der Kaiser auf diese elende Insel kam, wo er von den Engländern gefangen gehalten wurde, war er siebenundvierzig Jahre alt und bei bester Gesundheit. Innerhalb weniger Monate schwollen jedoch seine Beine an, und er litt auch unter anderen Unpässlichkeiten: Kopf schmerzen, Durchfall, Schlaflosigkeit. Dieser pl ötzlich verschlechterte Gesundheitszustand änderte sich über sechs Jahre nicht. In den Wochen vor seinem Tod erbrach er mehrmals am Tag. Er selbst deutete an, dass er vergiftet werde. Und mir erscheint dies nicht an den Haaren herbeigezogen, wenn man bedenkt, dass einer seiner Kameraden und zwei Diener vor ihm auf der Insel gestorben waren.«
    »Können Sie uns etwas mehr über den vermeintlichen Giftmörder erzählen?«, bat der Moderator. »Welche Gründe hatte er, Ihren Vorfahren zu beseitigen?« »Mit großer Wahrscheinlichkeit war der Mörder Sir Hudson Lowe, der Gouverneur der Insel. Er war ein harter, unnachgiebiger Kerl, der die Sicherheitsrichtlinien des Ministers penibelst einhielt. Er wollte auf keinen Fall riskieren, dass Napoleon ihn lächerlich machte, indem er ein zweites Mal floh, wie es ihm 1815 von Elba gelungen war. Er demütigte den Kaiser mit absurden Verboten. Wann immer er ein Pferd bestieg, folgte ihm eine Eskorte. Dabei besaß St. Helena nicht einmal einen Hafen, die Boote mussten in der Bucht ankern. Die Steilklippen ragten 300 Meter in die Höhe. Wohin hätte mein armer Vorfahr fliehen sollen? Es war absurd! Der Gouverneur nannte Napoleon auch nicht Majestät , wie es dessen Wunsch war. Er musste sich mit der Anrede General Bonaparte zufriedengeben.« »Das ist wirklich unerhört«, bemerkte der englische Zuhörer ironisch. »Ich hätte eine solche Demütigung wahrhaftig nicht überleben können. Doch von dem, was Sie erzählen, bis zum Vorwurf des Mordes ist es ein ganzes Stück. Verzeihen Sie, aber ich habe irgendwo gelesen, dass man in letzter Zeit eher zu der Annahme neigt, Napoleon sei an Magenkrebs oder einem Leberschaden gestorben.«
    Prinz Bonaparte warf dem Engl änder einen vernichtenden Blick zu und erwiderte, ohne seinen Ärger verbergen zu können: »Unsinn! Wie Sie wissen, wurde Napoleon auf St. Helena begraben. In meinem Vortrag habe ich aber auch erwähnt, dass 1840 seine sterblichen Überreste exhumiert und nach Paris gebracht wurden. Sie waren sehr gut erhalten. Über hundert Jahre später, Anfang der sechziger Jahre, analysierte ein Untersuchungsteam, in dem auch ein Dentist und ein Experte für Toxikologie waren, die Symptome, über die Napoleon klagte. Und sie fanden heraus, dass sie denen einer schleichenden Vergiftung mit Arsen glichen. Das Team gelangte auch an einige Haare des Kaisers, die ihm allem Anschein nach am Tag nach seinem Tod abgeschnitten wurden.«
    Der Prinz schien zu bemerken, dass er sich über die Maßen erregte, und hielt einen Moment inne, um einen Schluck aus dem Wasserglas zu trinken, das er bis dahin nicht angerührt hatte. Dann fuhr er fort: »Diese Haarproben wurden in hochentwickelten Verfahren analysiert. Sie wiesen Arsen in weit höherer Konzentration auf als normal. Glauben Sie mir, mein Vorfahre wurde ermordet, und die einzige Person mit einem
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