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Dich schlafen sehen

Dich schlafen sehen

Titel: Dich schlafen sehen
Autoren: A Brasme
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umarmte sie und drückte sie so fest ich konnte. Ihr blauer Duft überwältigte mich, und ich weinte wie nie zuvor. Kindertränen sind jedes Mal dieselben; meine waren bis dahin nur Tränen meiner Launen gewesen. An diesem Tag aber weinte ich, weil ich wusste, dass wir, einmal getrennt, unser Versprechen nicht würden halten können.
    Wir hielten uns sehr lange umschlungen, bis sie sich von mir löste. Sie lächelte mich durch ihre Tränen an.
    Und dann drehte sie sich um und stieg in den Wagen. Er fuhr los und war gleich darauf in einer Staubwolke verschwunden. Ich weinte, ich weinte wochenlang bittere Tränen, die mir in der Kehle brannten. Dann musste ich mich in das Unvermeidliche fügen. Ich war allein. Und diese neue Einsicht erschien mir unendlich hart und kaum zu ertragen.
    Ihr Verschwinden bedeutete das unwiderrufliche Ende meiner Kindheit. Ich war elf Jahre alt. Und ich kam zu dem Schluss, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben nach vorn blicken musste, ohne mich umzudrehen, dass ich wachsen und mich bis zur Vollkommenheit entfalten musste. Schluss mit den Launen und albernen Kindereien. Nach den Ferien kam ich in die sechste Klasse des angesehenen Collège Chopin. Meine Eltern scheuten weder Kosten noch Mühen, aber das war ganz in meinem Sinn: Ich wollte die Beste werden, in jeder Beziehung. Und ich dachte nur an die Schule, um das Ende der Freundschaft zu vergessen, die meine Kindheit begleitet hatte.
    Am 6. September jenes Jahres trat ich durch das große Tor, das auf den Schulhof führte. Ich blickte geradeaus und schwor mir, die Beste zu werden, koste es, was es wolle.

Ersticken
    Ich erinnere mich noch klar und deutlich an diesen Septembermorgen. An den Geruch des Herbstes, den farblosen Himmel, die feuchte Luft, die grauen Straßen, den Lärm der Boulevards, die sanfte Müdigkeit des Morgens.
    Das Schulgebäude, kalt, bedrohlich und schmutzig, wuchs immer höher empor, je näher ich kam.
    Zu diesem tristen Bild von meinem ersten Tag am Collège fügen sich vor meinem geistigen Auge wie von selbst die Überbleibsel einer verhassten Jugend. Ich habe die bittere Erinnerung an diese mühseligen Jahre behalten, an die Einsamkeit des Wartens, die Zeit, die still zu stehen schien.
    Aus der Höhe meiner hundertfünfzig Zentimeter, so klein, so schwach, mit dem Ranzen, der mich fast erdrückte, hob ich den Blick zu den farblosen Mauern der Schule, schrecklich einsam und ängstlich bei dem Gedanken, ohne Vanessa an meiner Seite diesen neuen Lebensabschnitt zu beginnen.
    Von diesem Herbstmorgen an wurde mein Leben mit jedem Tag belangloser, kälter und bitterer.
    Ich war allein. Ich trat zögernd in den großen Hof, auf dem es bereits von hunderten unbekannten Gesichtern wimmelte. Ich war völlig verunsichert, kam mir winzig vor in der gewaltigen und dichten Menge, die die Schüler um mich herum bildeten. Ich machte meine Klasse ausfindig. Ich entsinne mich noch: die 6 B. Eine Gruppe von etwa zwanzig Schülern stand vor einer Tür und wartete auf einen Lehrer. Ohne sie auch nur anzusehen, stellte ich mich dazu und folgte dann dem Haufen ins Innere des Gebäudes.
    Der erste Schultag war der schlimmste. Kaum angekommen, bekamen wir zu hören, dass wir nach sehr strengen Kriterien ausgesiebt worden seien, dass wir zur Elite zählten und ohne jeden Zweifel die Besten seien. Und aus diesen Worten meinte ich herauszuhören: »Friss oder stirb, meine Kleine!«
    Dann folgten Wochen und Monate, in denen wir verbissen gegen Müdigkeit und Mutlosigkeit ankämpften. Natürlich war unsere Klasse eine der besten sechsten Klassen am Chopin. Aber unser Lebensrhythmus war für Kinder, die kaum zwölf Jahre alt waren, unerträglich. Von morgens bis abends mussten wir durchhalten und rackern wie Arbeitstiere. Das zehrte an meinen Kräften. Ich musste über mich hinauswachsen. Ich bekam weiter glänzende Noten, nur Einsen und Zweien, aber ich fürchtete jeden Augenblick einen Einbruch oder Ärger mit einem Lehrer, einen Absturz an die Schwelle zum »Ungenügend«.
    Ich kam in einem jämmerlichen Zustand von der Schule nach Hause. Nie zuvor ist mir der Winter so lang vorgekommen wie in jenem Jahr, und er dauerte bis in den Frühling, sogar bis in den Sommer. Düstere Bilder ziehen vor meinen Augen vorüber. Ich bin zwölf Jahre alt. Mit gesenktem Blick gehe ich durch eine breite, mit Laub übersäte Allee: die Rue Chopin. Mir ist kalt. Ein unsichtbares Gewicht lastet auf meinen Schultern.
    Ich hatte kaum Freunde. Die wenigen
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