Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dich schlafen sehen

Dich schlafen sehen

Titel: Dich schlafen sehen
Autoren: A Brasme
Vom Netzwerk:
leben, aber anders. Ohne die Augen zu schließen, schlüpfte ich in den perfekten, anmutigen Körper einer Frau; mein Gang war so selbstsicher, dass ich einer ganzen Armee hätte trotzen können. Diese Charlène war so hinreißend schön, dass sie fast schon hochmütig und herablassend wirkte. Von einer Sekunde auf die andere wurde ich die, die ich leidenschaftlich gern sein wollte. Und von da an wartete ich nur noch darauf, erwachsen zu werden. Ich fieberte dem Augenblick entgegen, da mein Körper endlich aufblühte und ein Mädchen hervorbrachte, das bezaubernder und liebenswerter war. Nichts würde mehr so sein wie zuvor. Und ich war mir sicher, ich würde dann nicht mehr nur Hass in mir haben, sondern vor Liebe überfließen.
    Das Schuljahr ging zu Ende. Ich begrüßte erleichtert das Ende dieses langen Martyriums.
    Der folgende Sommer roch nach Thymian und Lavendel, nach dem gelben Staub der Feldwege, und er hatte die Farbe eines strahlenden Himmels und endloser Weinberge. Meine Eltern hatten eine Wohnung in der Provence gemietet, in einem abgeschiedenen kleinen Dorf, das auf einem schroffen Felsen in der Nähe des Mont Ventoux lag. Ich genoss die stundenlangen trägen Sonnenbäder, und es roch gut nach den parfümierten Sonnencremes und dem Chlor des Swimmingpools. Ich glaube, ich war glücklich. Ich spürte, dass mein Körper sich langsam veränderte, dass die Blume in mir aufblühte und sich entfaltete. Ich lernte, mich im Spiegel zu betrachten, zu lächeln, mich wohl in meiner Haut zu fühlen.
    Morgens frühstückten wir auf der Terrasse der Wohnung, und ich lauschte der friedlichen Stille, dem Säuseln des aufkommenden Mistrals, dem Zirpen der ersten Zikaden. Weitab von den Pariser Mauern war das Leben aufregend, pulsierend. Ich schrieb wieder, Lieder. Und zum ersten Mal in meinem Leben gehörte ich einer Clique an, und die meisten waren älter als ich. Abends saßen wir alle im Kreis vor dem leeren Swimmingpool und sangen zur Begleitung einer akustischen Gitarre alte Hits. Mit einem Mal war ich nicht mehr anders als sie. Ich begnügte mich nicht mehr damit zu existieren: Ich lebte, ich hielt das Glück in beiden Händen.
    Eines Nachts, als der Mond in mein Fenster schien und mit seinen Strahlen das Halbdunkel in meinem Zimmer durchschnitt, spürte ich in mir einen zarten warmen Schmerz. Dieses Ziehen, dieser Schwindel hielt die ganze Nacht an und durchströmte mit sanfter Gewalt meinen Bauch. Bis zum Morgen dauerte es an, dann schob sich der Tag dazwischen und ergoss sein Licht über mein Gesicht. Ich stand auf und entdeckte einen Blutfleck auf dem weißen Leintuch. Und ich dachte, dass mit der ersten Regel für mich ein neues Leben begann.
    Als zwei Wochen später, an einem schönen Augusttag, unser Auto im Morgengrauen zum Dorf hinausfuhr und eine ungezähmte Provence hinter sich ließ, fühlte ich mich zum ersten Mal frei. Die Beklemmung in meiner Brust, das Gefühl zu ersticken war verschwunden. Ich war erwachsen. Endlich begann mein Körper zu reifen. Jetzt musste ich nur noch die Blicke der anderen auf mich ziehen. Damals schwor ich mir, dass ich schon beim nächsten Schulbeginn geliebt werden würde.
    Im folgenden September kam ich in die siebte Klasse. Es war ein schöner malerischer Herbst, rot und farbenfroh. Ich erschien voller Zuversicht vor den Eisentoren des Chopin, denn ich hoffte insgeheim, ein für alle Mal das Bild auszulöschen, das ich im Jahr zuvor von mir geboten hatte. Ich war fest entschlossen, mich zu ändern, mich wie ein normaler Teenager zu benehmen, mich unter die Leute zu mischen und zu vergessen, dass ich anders war.
    Das war meine Herausforderung, meine Belohnung, meine Entschädigung für das schreckliche Jahr, das ich durchgemacht hatte. Ich musste es schaffen, um jeden Preis.
    Ich hatte mich abgekapselt. Ich war entschlossen, meine Vergangenheit auszulöschen und endlich jemand zu werden. Mit der unsichtbaren Charlène war es für immer und ewig vorbei. Endlich würden mich die anderen bewundern und beneiden, und zwar mehr als jede andere. Schon malte ich mir ihr Erstaunen bei meinem Erscheinen aus: »Irre, wie sie sich verändert hat...«
    Ich hatte dem ersten Schultag entgegengefiebert wie einem lang ersehnten Augenblick der Befreiung. Am Abend vor diesem entscheidenden Tag hatte ich alles bis ins kleinste Detail durchgespielt, von meiner neuen, viel direkteren Art zu sprechen bis hin zu meinem neuen Gang, zielstrebig, aufrecht erhobenen Hauptes, bereit, der Welt die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher