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Dich schlafen sehen

Dich schlafen sehen

Titel: Dich schlafen sehen
Autoren: A Brasme
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Bild, das die Familie bot: meine Mutter, die langsam verrückt wurde, mein Bruder, der immer schwieg, die ewige Abwesenheit meines Vaters. Ich stand abseits, neben ihnen und ihren Problemen. Mein Leben war wie eine Zuflucht vor diesem Schmerz, ich brauchte nur die Augen zu öffnen, um die schreckliche Gleichgültigkeit zu sehen, die mich umgab. Und so vernichtete sich meine Familie in quälendem, allumfassendem Schweigen innerhalb weniger Jahre.
    Und dann begann ich zu wachsen.
    Wegen meiner Eltern tat ich so, als wollte ich kein Teenager werden. Ich schmollte, wenn meine Mutter davon sprach, mir einen BH zu kaufen, oder wenn sie mir zu erklären versuchte, wie es sein würde, wenn ich meine erste Regel bekam. So wies ich jahrelang jede Zuneigung zurück, die man mir schenkte, insbesondere die meiner Mutter – und das war, glaube ich, ungefähr zu der Zeit der Streitereien. Ich verwandelte mich in eine regelrechte Mauer aus Eis. Ich konnte es nicht ertragen, wenn man mich anfasste oder auch nur leicht berührte oder ansah. Ich brauchte keine Liebe mehr. Der Gedanke, erwachsen zu werden, verursachte mir beinahe Übelkeit.
    In Wahrheit fand ich es faszinierend. Insgeheim träumte ich davon, einen Körper zu besitzen, der sich veränderte. Ich beneidete Vanessa sehr um ihre ersten weiblichen Formen. Während bei ihr schon die Figur einer Frau zu erahnen war, wollte mein Körper partout kindlich bleiben. Jeden Tag untersuchte ich vor dem großen Spiegel im Badezimmer jeden Zentimeter meines Fleisches und hoffte auf irgendein Zeichen, das geeignet war, den Beginn meiner Pubertät anzukündigen. Aber nichts. Mein Bauch blieb rund wie der eines Kindes – obwohl ich überzeugt war, dass ich längst keines mehr war –, und meine Brust blieb hoffnungslos flach.
    Ich hatte das Gefühl zu ersticken. Ich litt unter diesem Körper, meinen Eltern, den Blicken der anderen, grollte der ganzen Welt.
    Unverstanden, ungeliebt, heulte ich innerlich auf. Einer plötzlichen Anwandlung folgend, beschloss ich eines Tages, mit dem Schreiben aufzuhören. Innerhalb einer Stunde fielen alle meine Hefte, Notizen und Geschichten meiner Rache zum Opfer. Ich war meinen Eltern schrecklich böse und überzeugt, dass sie mich nur um meiner Geschichten willen liebten – meine Mutter hatte sie oft, ohne sie überhaupt gelesen zu haben, voller Stolz ihren Freunden gezeigt und so getan, als hätte sie ein Wunderkind unter ihren Fittichen. Durch meine Tat demonstrierte ich ihnen verächtlich, dass ich vielleicht noch etwas anderes war als ein frühreifes Kind mit dem Zeug zur Schriftstellerin. Im Grunde flehte ich sie an, mich nur als ihre Tochter zu betrachten, mehr wollte ich gar nicht.
    Daraufhin machten sich meine Eltern die ersten Sorgen um mich. Eines Tages fand ich mich vor dem düsteren Schreibtisch eines Psychologen wieder. Ich sehe noch den in Halbdunkel getauchten Raum vor mir, ich, allein vor diesem unnahbaren Mann, der mich von oben herab ansah und dessen Blick ich trotzig erwiderte. Im Verlauf von zwei oder drei Sitzungen stellte er mir ein paar dumme Fragen, die ich kühl beantwortete; am Ende kam er zu dem Ergebnis, dass ich nur eine vorübergehende Krise durchmachte und dass kein Grund zur Besorgnis bestehe. Hätte er gewusst, was mich keine zehn Jahre später erwartete, wäre er mit Sicherheit nicht so zuversichtlich gewesen.
    Als Vanessa aus meinem Leben verschwand, waren wir beide knapp elf Jahre alt. Nichts hätte mich schwerer treffen können. Und doch war ihr Verschwinden nur die wohlverdiente Strafe dafür, dass ich den anderen jahrelang Leid zugefügt und nur an mich gedacht hatte.
    Ich erinnerte mich noch an den Tag, an dem wir voneinander Abschied nahmen. Es war im August, die Sonne brannte. Ihre braunen, sehr langen und sehr dichten Haare wehten im Wind, sodass sie sich unablässig Strähnen aus dem Gesicht streichen musste. Ihre unendlich blauen Augen waren mir noch nie so groß vorgekommen. Aber das war vielleicht den Tränen zuzuschreiben, die ihren klaren Blick verschleierten. Ich konnte es nicht ertragen, wenn Vanessa weinte. Das war, als hätte man mir ein Messer in die Brust gestoßen. Sie stand reglos im rötlichen Dämmerlicht. In der hohlen Hand hielt sie den Anhänger in Form einer kleinen blauen Tänzerin, den ich ihr zu ihrem letzten Geburtstag geschenkt hatte. Am Abend zuvor hatten wir zum letzten Mal Blutsbrüderschaft geschlossen und uns gelobt, immer Freundinnen zu bleiben, was auch geschehen mochte.
    Ich
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